Auf Abruf über den Fluss
Prognosen der UNO zufolge werden 70% der Menschen bis 2050 in Städten leben. Diese nehmen jedoch nur rund drei Prozent der Erdoberfläche ein. Es ist kein Expertenwissen erforderlich, um zu erkennen, dass eine derart ungleichmäßige Raumverteilung Probleme hervorrufen kann – schon jetzt bewegen sich innerstädtische Straßen zu Stoßzeiten häufig jenseits ihrer Auslastungsgrenze. Ein Team aus Stockholm setzt sich dafür ein, das Potenzial einer Rückbesinnung auf ohnehin bestehende Wasserwege zu erkennen. Parallel legen weltweit Designerinnen und Designer bereits Entwürfe vor, wie nachhaltiger urbaner Wasserverkehr aussehen könnte; und welche Vorteile er birgt.
Straßen an Grenze der Kapazität
Laut einer 2021 veröffentlichten Studie des International Transport Forum der OECD wird das Verkehrsaufkommen bis 2050 um mehr als das Doppelte steigen. Demnach werde sich der Personenverkehr um das 2,3-fache, der Güterverkehr um das 2,6-fache erhöhen. Ein Ende der Verkehrsüberlastung in Metropolen scheint also nicht in Sicht.
Während lange Zeit versucht wurde, höheren Mobilitätsbedarfen durch den Ausbau des Straßennetzes entgegenzuwirken, herrscht unter Verkehrsplanerinnen und Verkehrsplaner mittlerweile Einigkeit: Mehr Straßen verringern die Staugefahr nicht, sondern erhöhen sie langfristig sogar. Daten hierzu liefert unter anderem eine Studie der US-amerikanischen Organisation T4A . In der Ökonomie verwurzelt, wird dieses Phänomen in der Fachliteratur „induzierter Verkehr“ genannt. Sinkt der Preis eines Guts, steigt die Nachfrage danach; wird also die Verkehrssituation von Autofahrerinnen und Autofahrer verbessert, fahren die Menschen häufiger und weiter mit dem Pkw. Oder, wie es Bürgerinitiativen und Umweltverbände schon seit Jahrzehnten formulieren: „Wer Straßen sät, wird Verkehr ernten.“
Ein Umdenken ist nötig
Das Straßennetz kontinuierlich auszubauen und an die steigenden Mobilitätsbedarfe im urbanen Raum anzupassen, scheint dementsprechend keine zukunftsfähige Lösung zu sein. Dieser Gedanke war die Intention von Susanna Hall Kihl aus Stockholm, 2009 Vattenbussen zu gründen, was übersetzt „der Wasserbus“ bedeutet. Die NGO verfolgt das Ziel, die Aufmerksamkeit für das Wasser als urbanen Transportweg zu erhöhen. In Kooperation mit der Königlichen Technischen Hochschule Schwedens wird seitdem erforscht, wie die zahlreichen Flussverbindungen der Hauptstadt nachhaltig und effizient durch den Einsatz ökologischer Wasserbusse oder -taxen in den Nahverkehr eingegliedert werden können. Laut Karl Garme vom Fachbereich Luft- und Fahrzeugtechnik müssen fünf Dinge beachtet werden, damit solche Konzepte die Transportkapazität in Städten verbessern können:
- Anschluss an die Verkehrsinfrastruktur an Land sowohl physisch als auch per integrierter Buchungsoptionen,
- ganzjähriger, zuverlässiger Betrieb,
- schneller und unkomplizierter Ein- und Ausstieg ohne Wartezeiten
- Energieeffizienz, Effektivität, Modularität und Nachhaltigkeit und
- frühzeitige Planung.
Renovierung eines altbekannten Mobilitätskonzepts
Die Stadt, in der der Einsatz von Wasserbussen im Alltag wohl am bekanntesten ist, ist Venedig. Die als „Vaporetti“ bezeichneten Fähren, die im Schnitt etwa 200 Passagieren Platz bieten und in einem flächendeckenden Liniensystem verkehren, verbinden die Stadtteile Tag und Nacht miteinander. Venedig verfügt – zumindest im Zentrum – nicht über ein Straßennetz, weshalb die Nutzung der Kanäle alternativlos ist. Ähnliche Boote sind auch in Hamburg, Wien und Berlin in Betrieb, werden dort aber eher zu touristischen Zwecken als zum alltäglichen Pendeln verwendet. Im Modal Split, also der prozentualen Verteilung der zurückgelegten Personenkilometer auf die genutzten Verkehrsmittel, tauchen sie nicht auf.
In Indonesien, einem Archipel mit über 17.000 Inseln, fügen sich die Seewege schon eher ins Verkehrsnetz ein – wenn auch weniger fest verankert als aufgrund der Geografie der Insel erwartet werden könnte. Aktuelle Daten liegen nicht vor, doch im Jahr 2002 betrug der Anteil der auf dem Wasser zurückgelegten Personenkilometer weniger als ein Prozent. Die Anzahl der öffentlich nutzbaren Häfen betrug im selben Jahr 111, laut Statista waren es im Jahr 2019 294. Es ist also möglich, dass sich der Anteil des Wasserverkehrs am Modal Split innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte erhöht hat. Trotzdem bleibt ein großer Teil des Potenzials ungenutzt: Etwa zwei Drittel der Staatsfläche bestehen aus Wasser.
Eine Industrie gewinnt an Auftrieb
Die Pariser SeaBubbles schweben zum größten Teil über der Wasseroberfläche © SeaBubbles
Einige Designerinnen und Designer haben bereits innovative Konzepte vorgestellt, um die Entwicklung des urbanen Wasserverkehrs voranzutreiben. Das französische Unternehmen SeaBubbles beispielsweise produziert seit 2016 sogenannte „Hydrofoils“, Boote in der Größe eines Kleinwagens, die ausschließlich durch grüne Energie angetrieben werden und weder Lärm noch Emissionen verursachen. Digital per App reservierbar, bringen sie vier Passagiere on-demand mit etwa 30 km/h von A nach B. Getestet werden sie bereits seit 2017 auf der Seine in Paris.
Erst kürzlich entwickelte Duffy London das „ Hari Pontoon “, ein durch Solarenergie betriebenes Bambusboot, das in Kooperation mit einem indonesischen Unternehmen die dortige Wasserverkehrsinfrastruktur ergänzen soll. Es bietet etwa 15 Passagieren Platz und kann auch für kleinere Gütertransporte eingesetzt werden. Der während der Fahrt stetig aufgeladene Elektromotor verfügt laut Hersteller über eine Leistung von etwa 60 PS und erreicht eine Höchstgeschwindigkeit von etwa 20 km/h.
Solarzellen sorgen beim Hari Pontoon für volle Batterien © duffy london
Während das „Hari Pontoon“ eine Belegschaft von zwei Personen erfordert, versuchen sich Crosswater Technologies aus dem Silicon Valley mit einem autonomen On-Demand-System, das ebenfalls etwa 15 Passagiere fasst. 1.000 Fahrten sollen mit einer einzigen Aufladung möglich sein, verkündet das Unternehmen – ebenfalls lärm- und emissionsfrei.
Innovationen wie diese verdeutlichen, dass Susanna Hall Kihl mit ihrer Idee im Jahr 2009 den Nerv der Zeit getroffen hat. Die Nutzung vorhandener Fluss- und Kanalsysteme kann durchaus ein Markt werden: Spätestens dann, wenn es auf den Straßen noch enger wird. Die Zukunft wird zeigen, ob SeaBubbles & Co. das Potenzial innewohnt, zu festen Bestandteilen der innerstädtischen Verkehrsinfrastruktur zu werden.
Autor
David O‘Neill