Die Seilbahn als neue Dimension für urbane Mobiltätslösungen
Wie stellen Sie sich die Stadt der Zukunft vor? Was macht das Leben aus? Auf diese Fragen werden wir alle unterschiedliche Antworten finden. Eine Antwort jedoch wird uns verbinden – Städte sind Heimat. Sie sind Zuhause. Sie sind Orte für Menschen. Und so müssen wir sie auch denken. Mit diesem Blick müssen wir sie für die Zukunft aufstellen.
Beeindruckende Aussichten, kein Stau und keine Emissionen: Ob als Lift im Skiurlaub, als Transportmittel im Vergnügungspark oder als Verbindung zwischen Stadtgebiet und Bundesgartenschau – eine Seilbahnfahrt ist immer ein Erlebnis. In Europa bisher hauptsächlich touristisch im Einsatz, wird sie immer wieder als öffentliches Nahverkehrsmittel diskutiert.
In anderen Breitengraden hat man ihr Potenzial, Entfernungen und Höhenunterschiede ohne Rücksicht auf Straßenführungen und Geländestrukturen umweltfreundlich sowie nahezu lautlos zurücklegen zu können und sich damit in den ÖPNV einzugliedern, längst erkannt. So haben südamerikanische Städte wie die bolivianische Hauptstadt La Paz oder die kolumbianische Metropole Medellín in den letzten Jahren Seilbahn-Lösungen fest in ihre Verkehrssysteme integriert. Das Zurücklegen von Höhenmetern, also der ursprüngliche Zweck der „Gondel“, ist bis heute der Hauptgrund für die Implementation eines Seilbahnsystems – aber keine Voraussetzung. So wurde im Jahr 2014 in La Paz, einer Stadt mit einem Höhenunterschied von über 1.000 m, mit dem Mi Teleférico ein Seilbahnnetz über eine mehr als 30 km lange Strecke durch den Ballungsraum gespannt, um einerseits das Straßenverkehrsnetz zu entlasten und andererseits mobilitätsbedingte Segregationsdynamiken aufzuweichen. Mit derzeit zehn Linien wird die Transportkapazität des öffentlichen Verkehrsnetzes, das bis zum Seilbahnbau lediglich aus Minibussen bestand, exponentiell erhöht. Täglich nutzen nun mehr als 300.000 Fahrgäste die Seilbahn, die zwischen den tief gelegenen Ausläufern von La Paz, den Steilhängen der Kernstadt und der Hochebene der unmittelbar angrenzenden Millionenstadt El Alto verläuft. Ähnliche Effekte sind in Medellín sichtbar, in der die in steilen Hügellandschaften gelegenen peripheren Stadtteile bereits seit 2004 mit dem Zentrum verbunden sind. Wie in La Paz konnten auch hier die Mobilität verbessert und Segregationseffekte abgeschwächt werden. Infolgedessen sank binnen fünf Betriebsjahren sogar die Kriminalitätsrate.
Seilbahnbild über Autobahn: „Mi Teleférico“(deutsch: „meine Seilbahn“) ist mit derzeit zehn Linien und gut 30 km Gesamtlänge das weltweit größte städtische Seilbahnnetz. Die Gondelbahnen verbinden die bolivianische Hauptstadt La Paz mit der Nachbarstadt El Alto. Die erste Linie wurde 2014 eröffnet. © Getty Images/Alexander Haase
Obwohl Idee und Produktion von Seilbahnen fest in Europa verwurzelt sind, waren hiesige Städte bei der Implementation von Seilbahnsystemen in ihr Verkehrsnetz noch vergleichsweise zurückhaltend. Das zeigen unter anderem auch teils erst im Endstadium durch Bürgerentscheide oder Bezirksvertretungen abgelehnte Projekte verschiedener deutscher Großstädte (z.B. in Wuppertal, Hamburg und Köln). In allen Städten war es das Ziel, durch den Bau einer Seilbahn die Erreichbarkeit bestimmter Stadtteile zu erhöhen, die durch Barrieren (Höhenunterschiede, Wasserwege, Bebauung) vom Stadtzentrum abgeschnitten sind. Infolgedessen sind in Deutschland urbane Gondelsysteme vorerst noch hauptsächlich touristischer Natur.
Ein Beispiel jedoch, wie gut eine Seilbahn ankommt, ist Koblenz. Zur Bundesgartenschau 2011 entstanden, sollte die dortige Seilbahn längst abgebaut werden – doch eine Koblenzer Bürgerinitiative setzte sich für ihren Verbleib ein. Seitdem schweben von der linksrheinischen Talstation unweit des Deutschen Ecks insgesamt 18 Kabinen knapp 900 Meter über den Strom hinauf zur Festung Ehrenbreitstein. Mit einer Beförderungsleistung von bis zu 7.600 Personen pro Stunde sorgt die Bahn vornehmlich bei Veranstaltungen auf dem Festungsfelsen für einen reibungslosen Transport der Besucherinnen und Besucher – ein echtes Nahverkehrsmittel eben, wenn auch in diesem Fall noch mit rein touristischem Hintergrund. Allein während der Gartenschau wählten knapp sieben Millionen Fahrgäste die Schwebefahrt über den Rhein. Auch darüber hinaus sind von den hierzulande 210 Seilbahnen – 124 davon in Bayern – alle in touristischer Nutzung.
Neu denken, umdenken, anders machen
Doch auch in Deutschland rückt die Seilbahn angesichts zunehmender Staus, Lärm und Emissionen wieder stärker als urbanes Nahverkehrsmittel ins Blickfeld. Denn gerade in größeren Städten stoßen Straßen und öffentlicher Nahverkehr an ihre Grenzen oder sind längst über dem Limit. Obwohl ein Auto durchschnittlich am Tag nur etwa eine Stunde genutzt wird, wächst die deutsche Pkw-Flotte jährlich um 500.000 bis 700.000 Fahrzeuge. „Der Bau von U-Bahnen ist teuer und neue Straßen sind platzbedingt kaum mehr möglich. Im Zusammenhang mit dem Nachhaltigkeitsgedanken, der hierzulande immer mehr aktiv gefördert wird, hat das zu einem Umdenken geführt. Eine sehr gute Alternative, die Städte künftig grüner und umweltbewusster zu gestalten, können hierbei deshalb in der sogenannten ,Ebene +1‘ urbane Seilbahnen sein“, weiß Sebastian Beck, Infrastruktur-Experte beim Stuttgarter Planungs- und Beratungsunternehmen Drees & Sommer SE. Essenziell sei hierbei jedoch, dass sie in das ÖPNV-System integriert werden.
Um die Voraussetzungen und Optionen einer solchen Integration zu ermitteln, erstellt Drees & Sommer derzeit gemeinsam mit dem Verkehrswissenschaftlichen Institut Stuttgart GmbH (VWI) für das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) einen nationalen Leitfaden über die stadt- und verkehrsplanerische Integration urbaner Seilbahnprojekte. Das Ziel ist es, den Seilbahnbau und Nachhaltigkeitsgedanken in urbanen Räumen anzukurbeln und somit die Infrastruktur „grüner“ zu gestalten. Eine Übersicht zur „Realisierung von Seilbahnen als Bestandteil des ÖPNV“ soll in rund einem Jahr vorliegen. Ursprung des Vorhabens ist eine Gesetzesänderung Anfang 2020, als Seilbahnen zum förderungsfähigen Teil des ÖPNV erklärt wurden. „Im Fokus stehen dabei vor allem gesellschaftliche und politische Aspekte, der Vergleich von Kosten und Nutzen sowie die Einführung eines nationalen Standards. In erster Linie geht es aber darum abzuwägen, wo eine Seilbahn überhaupt sinnvoll ist und wo nicht“, erklärt Sebastian Beck. „Für ein urbanes Seilbahnsystem gibt es kein Patentrezept. In jeder Stadt ist die Infrastruktur, das Verkehrsaufkommen oder die Topografie unterschiedlich. Was in Stadt A super funktionieren würde, könnte in Stadt B hingegen überhaupt keinen Sinn ergeben. Deshalb muss jeder Ort ganz individuell betrachtet werden, inwiefern eine Seilbahn sinnvoll wäre.“
Neue Perspektiven in der Ebene +1
Um den optimalen Einsatz der Seilbahn, die städtebauliche Integration und die Verknüpfung mit dem ÖPVN zu ermitteln, werden dabei in erster Instanz die Seilbahnen in den Städten Medellín, La Paz, New York, Portland, Algier, Lissabon, Brest, Bozen, London und Ankara untersucht. Abgeleitet werden sollen daraus letztlich Erkenntnisse für mögliche Seilbahnprojekte in Deutschland. Neben der Integration in das ÖPNV-System spielt zudem der Rückhalt der Bürgerschaft eine wesentliche Rolle. Obwohl häufig ein Seilbahnbau im Vorfeld heftig umstritten war, „wollen die Menschen dort, wo sie umgesetzt ist, ihre Seilbahn nicht mehr missen. Ein transparenter Prozess ist deshalb das A und O. Und das wiederum kann nur gelingen, wenn die Bevölkerung in dieser Thematik von Beginn an ,mitgenommen‘ wird. Denn nur wer den Dialog sucht und offensiv kommuniziert, kann auch die Bedenken der Menschen berücksichtigen und ausräumen – das ist auch eines unserer Ziele bei der Erstellung des Leitfadens“, weiß der Infrastrukturexperte. Bedenken und Kritik bestehen häufig hinsichtlich der Trassenführung und mit dem durch die Errichtung von Pfeilern verbundenen Eingriff in das Stadtbild oder auch hinsichtlich der Einsicht auf Privatgrundstücke, wenn die Gondeln über diese hinwegschweben. „Dieses Problem ließe sich dank moderner Technik lösen“, sagt Sebastian Beck. „Das sogenannte ,Privacy Glass‘ könnte die Scheiben während der Fahrt zeitweilig verdunkeln, um die Einsicht auf Privatgrundstücke zu schützen.“
Städte- und gebäudeplanerisch sieht Sebastian Beck urbane Seilbahnen als Chance für neue Perspektiven und Konzepte. „Eine Trasse inklusive ihrer einzelnen Stationen wäre viel besser in eine Stadt zu integrieren, als man anfangs denkt. Beispiel: Eine Station könnte problemlos auf dem Dach neuer Gewerbeimmobilien oder Lagerhallen geplant werden. Dazu müssen wir uns aber von dem gewohnten Gedanken lösen, ein Gebäude grundsätzlich über das Erd- oder Untergeschoss zu betreten. Das Gleiche geht nämlich auch von ganz oben.“
Emissionsfrei über den Stau schweben
Die größten Chancen bieten Seilbahnsysteme für eine nachhaltigere und lebenswertere Ausrichtung des öffentlichen Verkehrs: Staus, Luftverschmutzung und Verkehrslärm zwingen Städte zur Reduktion bestehender Belastungen. Die Gondeln nutzen den Luftraum weitestgehend unabhängig vom übrigen Verkehr: „Sie selbst verursachen kaum Emissionen – bei Betrieb mit regenerativ erzeugtem Strom weisen sie sogar eine Nullemission auf. Außerdem sind sie keine Konkurrenz zu Auto, Bus und Bahn, sondern vielmehr eine Ergänzung, die eine neue dritte Ebene der Fortbewegung erschließt. Vor allem aber sind sie leise, sicher und leistungsfähig. Zwar lassen sich die ökologischen Eigenschaften von Seilbahnen nur schwer pauschalisieren, da sie stets im Kontext der lokalen Gegebenheiten und Anforderungen untersucht werden müssen“, führt Sebastian Beck aus. „Nichtsdestotrotz ist bereits wissenschaftlich belegt worden, dass Seilbahnen selbst bei einer hohen Förderleistung einen verhältnismäßig sehr geringen Energiebedarf aufweisen. Dies ist sowohl auf ihre technische Konstruktion durch die gegenseitige Aufhebung der Massenverhältnisse als auch auf äußerst energieeffiziente Antriebe zurückzuführen. Da diese zudem mit elektrischem Strom betrieben werden, ist der ökologische Fußabdruck einer Seilbahn um ein Vielfaches geringer als bei anderen Verkehrsträgern.“
Betrachtet man den CO2-Ausstoß von verschiedenen Verkehrsmitteln pro Person und Kilometer, so schneiden Seilbahnen mit am besten ab, erklärt Sebastian Beck: „Bei einer Auslastung von nur 50 % verursacht eine Seilbahn 27 g Kohlendioxid, ein Zug mit E-Lok 30 g, ein Bus mit Dieselmotor 38,5 g und ein Verbrenner-PKW sogar 248 g. In der ökologischen Gesamtbetrachtung geht die Seilbahn somit als umweltfreundlichste Mobilitätslösung hervor. Unter der Annahme einer Betriebsdauer von 30 Jahren produziert die Seilbahn im Vergleich zu den anderen Verkehrsmitteln weniger als ein Viertel an Tonnen Kohlendioxidäquivalent (tCO2eq). Somit verfügt die Seilbahn über den kleinsten ökologischen Fußabdruck. Die Studienergebnisse wurden von drei unabhängigen Instituten auditiert.“
Die Transportleistung der Koblenzer Seilbahn von 7.600 Personen pro Stunde lässt erahnen, welche immensen Potenziale Seilbahnen als urbane Fortbewegungsmittel erbringen könnten. Solche Beförderungskapazitäten wären für die Bewältigung von Pendlerverkehren eine wahre Erleichterung. Mit einer Geschwindigkeit von etwa 21 km/h hätte die Wuppertaler Seilbahn beispielsweise in neun Minuten eine Strecke zurückgelegt, für die ein Pkw im Berufsverkehr etwa die doppelte und ein Linienbus die dreifache Zeit benötigt. Mit einer Bauzeit von einem Jahr und vergleichsweise niedrigen Baukosten von zwölf Millionen Euro macht das Koblenzer Beispiel deutlich, dass Seilbahnen schnell und kosteneffizient den Mobilitäts-Drahtseilakt in Europas überlasteten Städten ausbalancieren könnten.
Sebastian Beck hat Infrastrukturmanagement an der Hochschule für Technik in Stuttgart studiert. Anfang 2010 startete er bei den Experten für Infrastruktur von Drees & Sommer mit den Schwerpunkten Erschließungs-, Schieneninfrastruktur-, Energie- und Seilbahnprojekte. Seit Oktober 2016 ist Beck als Bereichsverantwortlicher Infrastruktur für den Standort Baden-Württemberg verantwortlich. Darüber hinaus gibt er sein Wissen im Bereich Bau- und Immobilienmanagement als Lehrbeauftragter an der Hochschule für Technik in Stuttgart im Studiengang Infrastrukturmanagement weiter.
Autorin
Csilla Letay