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Next Level

Eine Herkulesaufgabe für etablierte Hersteller

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Im Gespräch mit Prof. Stefan Bratzel, Gründer und Direktor des Center of Automotive Management (CAM)

Stefan Bratzel

Porträt: © Center of Automotive Management

Herr Prof. Bratzel, in der aktuellen Studie „Die Zukunft der Mobilität“ identifiziert das CAM drei große Innovationstrends. Spitzenreiter bei den Hersteller-Innovationen ist dabei „User Interface“ mit einem Plus von 67 % in den vergangenen fünf Jahren. Was bedeutet das konkret für die Fahrerinnen und Fahrer?

Die Zahl der Funktionen im Fahrzeug hat sich enorm vergrößert. Es ist die große Kunst der Automobilhersteller, diese Komplexität im Auto mit entsprechenden Bedien- und Anzeige-Konzepten so zu reduzieren, dass diese Funktionen im wahren Wortsinn handhabbar sind. Zum Beispiel durch Sprachbefehle oder Touchscreens. Die jeweilige Funktion tritt außerdem erst dann in den Vordergrund, wenn sie auch benötigt wird bzw. sinnvoll ist. Ein Beispiel ist die Anzeige von Tempolimits. Diese Fortschritte beim User Interface sind fast schon zwingend erforderlich, soll der Fahrer nicht durch die Vielfalt neuer Funktionen heillos überfordert werden.

An zweiter Stelle der Innovationen nennt die Studie „Connectivity“ – mit einem Plus von 18 %. Was sind hier die größten Meilensteine der jüngeren Zeit?

Zunächst ist es inzwischen weitestgehend gewährleistet, dass die Kommunikation zwischen Kunde und Fahrzeug gut funktioniert. Das ist die Grundlage. Der Kunde kann sein Portfolio von Diensten, die er außerhalb des Fahrzeugs gewohnt ist, zum Beispiel bestimmte Apps zur Unterhaltung, auch innerhalb reibungslos nutzen. Nun sehen wir einen Trend hin zur Vernetzung des Fahrzeugs mit dem Umfeld. Ich denke da unter anderem an „Coming home“-Funktionen: Das Auto kommuniziert sozusagen mit dem smarten Haus. Das Garagentor wird geöffnet und bei Dunkelheit das Licht eingeschaltet etc.

Erstaunlich gering angesichts der medialen Präsenz mutet der Zuwachs von sechs Prozent bei den Innovationen im Bereich autonomes Fahren an. Ein Beleg dafür, dass wir von flächendeckenden Lösungen noch viele Jahre entfernt sind?

Die niedrig hängenden Früchte in diesem Bereich wurden in den vergangenen Jahren schon geerntet. Wir reden ja bei Level 2 davon, dass das System Längs- und Querführung in bestimmten Situationen übernimmt. Das ist in den meisten Segmenten schon umgesetzt. Nun steht das Level an, in dem der Fahrer das System nicht mehr dauerhaft überwachen muss. Hier gibt es auch schon die ersten praktischen Umsetzungen. In den USA braucht man nicht mehr ans Lenkrad fassen. Die neueste S-Klasse bzw. der EQS von Mercedes verfügt über einen Staupiloten, ein sogenanntes Level-3-System, bei dem das Auto die Verantwortung für die Fahraufgabe übernimmt. Der Fahrer kann in dieser Zeit zum Beispiel im Internet surfen oder E-Mails schreiben. Mit solchen Lösungen ist zwar schon einiges erreicht. Jetzt bräuchte es meiner Ansicht nach aber weitere Quantensprünge, um die nächsten Level zu realisieren.

Fehlen vor allem technische oder rechtliche Voraussetzungen?

Beides. Denn auch wenn technologisch schon vieles möglich scheint, gibt es noch Hürden zu nehmen. Ich war im vergangenen Sommer in San Francisco und im Silicon Valley. Die Robotaxis von GM Cruise haben mich beeindruckt. Doch Schwachstellen sind unübersehbar. So versammelten sich an einer Kreuzung acht bis neun dieser autonomen Taxis und kamen nicht weiter. Das Problem musste schließlich von Menschen manuell gelöst werden. Fazit: Ich rechne damit, dass wir erst Ende der 2020er-Jahre die nächste Dimension des autonomen Fahrens in größerem Stil erleben werden.

Silicon Valley ist ein gutes Stichwort: Wie ist es um die Entwicklung hiesiger OEMs und Zulieferer zu Tech-Unternehmen und Mobilitätsdienstleistern bestellt? Klappt die „Transformation durch Software“?

Das geht sehr viel langsamer, als es sich die Automobilhersteller einst gedacht haben. VW mit seiner verspäteten Software-Strategie steht da sicherlich ein stückweit für die Branche insgesamt. Mit den neuen Fahrzeugarchitekturen tun sich die hiesigen Hersteller deutlich schwerer als mit der E-Mobilität. Es sind schlicht ganz andere Kompetenzen, die nun gefordert sind. Die gute Nachricht ist, dass die Komplexität und die hohe Bedeutung der Aufgabe inzwischen erkannt sind. Aber die Umsetzung wird noch eine ganze Weile in Anspruch nehmen. Da liegt im Übrigen der größte Unterschied zwischen Tesla und den etablierten Playern. Tesla hat das Auto auf die Software gesetzt – nicht umgekehrt. Die anderen Hersteller sehen sich einer „Ko-Ko-Ko-Herausforderung“ gegenüber: Das erste „Ko“ steht für neue Kompetenzen, das zweite für neue Kooperationen, die man mit Tech-Spezialisten eingehen muss. Und das dritte „Ko“ meint Kultur und Organisation – sie müssen ein digitales Mindset entwickeln, um künftig erfolgreich zu sein. Alles in allem ist das eine Herkules-Aufgabe, keine Frage.

Sie haben vorhin angedeutet, dass die deutschen Hersteller in Sachen E-Mobilität schon recht gut aufgestellt sind. Allerdings kamen von den rund sieben Millionen batterieelektrischer Fahrzeuge im vergangenen Jahr weniger als eine Million von der Volkswagen-Gruppe, BMW und Mercedes. Wie ordnen Sie das ein?

Es stimmt. Auf diesem Gebiet sind die genannten Hersteller nicht ganz weit vorne. Fairerweise muss man sagen, dass die Zahlen auch dadurch zustande gekommen sind, weil die chinesischen Unternehmen und Tesla besser durch die Chip-Krise gekommen sind. Aber ja, es ist noch viel Luft nach oben.

Ist Tesla überhaupt noch einzufangen? Oder kann man auf längere Sicht nur hinterherfahren?

Ich rechne schon mit bis zu fünf Jahren, bis der Tesla-Vorsprung eingeholt wird und man den Spieß vielleicht sogar umdrehen kann.

Womit können die deutschen Hersteller denn heute schon punkten gegenüber dem Wettbewerb aus den USA und Fernost?

Wir sprechen ja im Wesentlichen von Premium-Herstellern. Die alten Tugenden wie die enorm wichtige Produktqualität beherrschen sie nach wie vor. Und man darf und sollte auch nicht ihre Innovationskraft unterschätzen. In der Breite der Technologien sind die deutschen OEMs gut aufgestellt. Das Neue ist, dass sie massive Konkurrenz bekommen haben. Aber sie werden nicht von der Bühne verschwinden, davon bin ich überzeugt.

Vielen Dank für Ihre interessanten Einschätzungen.

PROF. DR. RER. POL. STEFAN BRATZEL

ist Gründer und Direktor des unabhängigen Forschungsinstituts Center of Automotive Management (CAM) an der Fachhochschule der Wirtschaft in Bergisch Gladbach. Nach einem Studium der Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin und der anschließenden Promotion wurde Bratzel in und um die Automobilbranche aktiv. Hier durchlief der 1967 geborene Wissenschaftler verschiedene Stationen: als Produktmanager bei der Daimler-Tochter smart, als Programm-Manager bei der Telefonica-Tochter Group3G und als Leiter Business Development Automotive beim mittelständischen Softwareunternehmen PTV. Seit April 2004 arbeitet Stefan Bratzel an der Fachhochschule der Wirtschaft in Bergisch Gladbach (bei Köln) als Dozent und Studiengangsleiter für Automotive Management sowie in der Forschung & Beratung als Direktor des ortsansässigen Auto-Instituts CAM. Stefan Bratzel befasst sich in seinen Forschungen mit den Erfolgs- und Überlebensbedingungen von Automobilherstellern und Zulieferern sowie den Zukunftsfragen der Mobilität.

Autor

Daniel Boss