NACHHALTIGE UND KLIMARESILIENTE QUARTIERE FÜR DIE ZUKUNFT
Herr Dr. Bradtke, das Quartier Havkenscheider Höhe ist vom NRWVerkehrsministerium ausgezeichnet worden und Teil der Bochumer Neuentwicklung OSTPARK. Das Projekt „OSTPARK – Neues Wohnen“ ist die derzeit größte Wohnbauflächenentwicklung in Bochum. Welchen Bedarfen und Notwendigkeiten begegnet die Stadt Bochum mit diesem Vorhaben?
Glücklicherweise haben wir in den Städten der Metropole Ruhr noch keine so große Wohnungsnot wie in Berlin, München, Hamburg oder Köln. Doch nach jahrelangem Bevölkerungsrückgang zeigen sich auch im Ruhrgebiet und bei uns in Bochum eine immer stärkere Nachfrage und steigende Preise für Bauland, Immobilien sowie höhere Mieten. Mit dem OSTPARK bedienen wir die wachsende Nachfrage nach Wohnraum – mit ihm entsteht ein zukunftsweisendes, attraktives und sozial ausgewogenes Wohnquartier zwischen Stadt und Landschaft. Die Wohnbebauung wird aus einem Drittelmix von Eigenheimen beziehungsweise Eigentumswohnungen, Mietwohnungen und Wohnungen im geförderten Wohnungsbau bestehen. Das Projekt „OSTPARK – Neues Wohnen“ bildet einen zentralen Baustein des kommunalen „Wohnbauflächenprogramms“, mit welchem wir den Wohnungsneubau in Bochum zukunftsgerecht aufgestellt haben.
Der OSTPARK wird aus zwei unabhängigen Quartieren bestehen, die jeweils an die bestehende Bebauungsstruktur anknüpfen: die Feldmark im Westen und die Havkenscheider Höhe im Osten. Ein zentraler Wasserlauf mit angrenzenden Naherholungsflächen bildet laut Plänen das grünblaue Rückgrat des OSTPARKS und soll zugleich der natürlichen Niederschlagsentwässerung dienen, was die klimatischen Verhältnisse und die Aufenthaltsqualität der neuen sowie der bestehenden Wohngebiete im Umfeld verbessern soll. Mit dem OSTPARK soll eines der ersten klimaangepassten Quartiere der Region entstehen – könnten Sie das Klimakonzept näher erläutern? Welche konkreten Maßnahmen sind hier vorgesehen, auch vor dem Hintergrund eines Ausgleichs der Flächenversiegelung durch die neu entstehenden Infrastruktur und Gebäudeflächen? Welche Rolle spielen Fassaden und Dachbegrünung?
Gerade erst diesen Sommer haben wir wieder zu spüren bekommen, wie der Klimawandel unseren Alltag belastet. Besonders die Großstädte, die sich tagsüber stark aufheizen, stellt das vor neue Herausforderungen. In westdeutschen Städten wie Bochum könnte schon in 30 Jahren ein mediterranes Klima wie im italienischen Genua herrschen – damit rechnen Forscherinnen und Forscher, wie etwa am Potsdam Institut für Klimafolgenforschung.
Bochum hat wie fast alle Kommunen im Ruhrgebiet diese Aufgabe erkannt: Wir haben schon frühzeitig Klimaschutzkonzepte verabschiedet und umgesetzt. Der OSTPARK ist für uns ein ökologisches und klimapolitisches Modellvorhaben. Warum? Weil wir die beiden Quartiere Feldmark und Havkenscheider Höhe klimaangepasst und somit zukunftsträchtig planen, um genau diesen klimatischen Herausforderungen entgegentreten zu können. Im Jahr 2014, also sehr früh vor der Realisierung des OSTPARKS, haben wir das Projekt Plan4Chance gestartet: Zusammen mit der Ruhr-Universität Bochum, dem Deutschen Institut für Urbanistik und der Eimer-Projekt Consulting haben wir wissenschaftlich untersucht, wie und mit welchen Mitteln Klimaanpassungsaspekte — vor allem in Bezug auf Hitze, Frischluft und Regenwasser — bei Planung und Umsetzung der neuen Wohnquartiere und der Grünflächen eingebracht werden können. Die Ergebnisse spiegeln sich in den konkreten Planungen wider: Frischluftschneisen, also größere Baulücken, werden im OSTPARK für eine Frischluftzufuhr sorgen, damit warme Luft abziehen kann und nicht wie eine Glocke über der Stadt hängt. Außerdem haben wir im OSTPARK ein zukunftsweisendes Regenwassermanagement: Der oberirdische Wasserlauf, der die beiden Quartiere miteinander verbindet, dient der natürlichen Niederschlagsentwässerung und lässt Wasser verdunsten. Die Konsequenz: Die Umgebung kühlt sich ab. Eine weitgehende Dachbegrünung der Gebäude und ein hoher Grünanteil auf den Freiflächen soll ein zu starkes Aufheizen im Sommer verhindern und zugleich Wasser bei Starkregenereignissen speichern. Durch eine kompakte Bauweise achten wir außerdem darauf, nicht zu große Flächen zu nutzen und zu versiegeln. Gebäudesockel zur Starkregenvorsorge, Verschattungselemente, helle Farben an den Gebäuden und der Einsatz klimaschonender Fernwärme sind weitere Punkte, die ich in diesem Zusammenhang auflisten möchte. Es ist eine ganze Fülle an Maßnahmen, um den OSTPARK klimaangepasst für die Zukunft aufzustellen.
Der Quartiersplatz ist ein integraler Bestandteil des Quartierlebens und das soziale Zentrum der Havkenscheider Höhe. © Mäckler Architekten
Apropos Dach. Angesichts der aktuellen Entwicklungen im und Prognosen für den Energiemarkt bzw. im Kontext der Energiewende wird dezentralen Energiesystemen eine immer größere Bedeutung zugesprochen. Wird dieser Aspekt im Konzept der Havkenscheider Höhe aufgegriffen, und wenn ja, wie? Inwiefern spielt Photovoltaik hier eine Rolle bzw. was ist hier geplant?
Photovoltaikanlagen bzw. Sonnenkollektoren sind auf den Dachflächen der Gebäude im OSTPARK fest eingeplant. Und nicht nur das: Energieeffiziente Bauweisen und Möglichkeiten der passiven und aktiven Nutzung von Solarenergie sowie von anderen erneuerbaren Energien werden wir bei anstehenden Vermarktungen der Bauflächen begünstigend bei der Grundstücksvergabe berücksichtigen. Auf unseren Quartiersgaragen in der Feldmark und Havkenscheider Höhe ist ebenfalls eine Photovoltaikanlage vorgesehen – sie soll sogar einen Teilbedarf der Ladestationen für E-Fahrzeuge in den Garagen decken.
Haben Sie sich angesichts der aktuellen Energiekrise veranlasst gesehen bzw. sehen Sie sich veranlasst, bei den Planungen nachzusteuern? Inwiefern kann aus Ihrer Sicht das neue Quartier bzw. können einzelne Quartiere generell einen Beitrag zur Energiewende leisten? Wie verändert sich hier auch die Rolle der Stadtplanung?
Stadtplanung muss auf die Herausforderungen der Zukunft reagieren. Daher sind nachhaltige und klimaresiliente Quartiere unsere Zukunft. In der Havkenscheider Höhe und auch in der Feldmark leisten wir mit unseren Planungen einen enorm wichtigen Beitrag. Schon lange vor der Energiekrise haben wir das gesamte Spektrum von Energieeffizienz und erneuerbarer Energien mitgedacht. Denn wir wollen ein zukunftsweisendes Energiekonzept umsetzen, das langfristig angelegt ist.
Die Energiewende ist eng gekoppelt mit der Mobilitätswende – in welcher Hinsicht wird im neuen Quartier dieser Sektorkopplung eine Rolle zugedacht, etwa durch die Planung entsprechender EMobilitätsinfrastruktur?
E-Mobilität spielt in der Havkenscheider Höhe eine bedeutende Schlüsselrolle. In der Mobilstation, die in der Quartiersgarage integriert ist, können sich Bewohnerinnen und Bewohner zum Beispiel E-Bikes oder E-Lastenräder ausleihen und die E-Fahrzeuge laden. Den Verzicht aufs Auto erleichtern zudem unsere Mobility Points. Die Stellplätze für Räder mit Ladestationen, die direkt an Haltestellen installiert werden, erhöhen den Anreiz, E-Bikes und E-Lastenräder für Kurzstrecken zu nutzen. So können Bewohnerinnen und Bewohner bequem mit dem Fahrrad an eine der Haltestellen fahren, das Rad abstellen und mit Bus und Straßenbahn weiter bis an ihr Ziel kommen.
Die Quartiersgarage bietet nicht nur private Pkw- und Fahr- radabstellplätze. Bewohner:innen können in der integrierten Mobilstation flexibel zwischen dem eigenen Pkw, Carsharing, Fahrrad, E-Bike, Lastenrad oder Bollerwagen wählen. © Mäckler Architekten
Das Mobilitätskonzept für den OSTPARK bzw. die Havkenscheider Höhe soll die Belastung durch motorisierten Individualverkehr innerhalb und außerhalb des Quartiers minimieren. Was sieht das Mobilitätskonzept für die Havkenscheider Höhe ganz konkret vor, wie kann dieses Ziel erreicht werden? Wie sieht die räumliche Zuordnung bzw. Verteilung für das Thema Mobilität aus?
Mit der Havkenscheider Höhe werden wir bis 2026 eines der ersten autoreduzierten Quartiere in Bochum realisieren. Das bedeutet, dass im Quartier Rad- und Fußverkehr Vorrang haben. Um das erreichen zu können, bedarf es ein Umdenken auf vielen Ebenen. In der Havkenscheider Höhe reduzieren wir den Flächenbedarf für den motorisierten Individualverkehr. Dies gelingt zum einen über einen Stellplatzschlüssel von 0,8 für frei finanzierten bzw. 0,7 für öffentlich geförderten Wohnraum sowie 1,0 für Eigentumswohnungen. Zum anderen finden Autos Platz in einer zentral gelegenen Quartiersgarage, in der der Großteil der privaten und öffentlichen Pkw geparkt werden. Eine Vielzahl der Autos verschwindet also aus dem Sichtfeld der Bewohnerinnen und Bewohner. Die positive Folge davon ist, dass wir im Quartier weniger asphaltierte Flächen für Parklätze benötigen und die Straße durch verkehrsberuhigte Bereiche zum öffentlichen Raum wird – zum Fahrradfahren, Spielen, Joggen oder Walken. Wir möchten eine neue Antwort auf die Frage geben, wem der Straßenraum eigentlich gehört: etwa Autos, die den Großteil des Tages parken, oder den Bürgerinnen und Bürgern? Unsere Planungen machen es sogar möglich, problemlos auf das eigene Auto zu verzichten, denn auf umweltfreundliche Verkehrsmittel umzusteigen, ist in der Havkenscheider Höhe ein Leichtes. Bewohnerinnen und Bewohner können Leihfahrräder, E-Bikes oder Lastenräder flexibel nutzen, und die Fuß- und Radwege innerhalb sowie außerhalb des Quartiers sowie ein dichtes ÖPNV-Netz binden die Havkenscheider Höhe optimal an. Dass wir mit unseren Mobilitätsplanungen für die Havkenscheider Höhe richtig liegen, hat eine große Auszeichnung bewiesen: Für unser Projekt „Havkenscheider Höhe – höchst mobil“ wurden wir als eine von insgesamt sieben Kommunen in NRW vom Ministerium für Verkehr des Landes NRW ausgezeichnet.
Neue Mobilitätsmuster spiegeln sich in räumlichen Zuordnungen. Stadtplanung muss heute das denken, was Jahre später funktionieren und Akzeptanz finden soll. Was ist im Kontext der Havkenscheider Höhe die größte planerische Herausforderung (gewesen)?
Das war klar die Überzeugungsarbeit, dass neue Wege gegangen werden müssen, um Problemen zu begegnen und ihnen in Zukunft mit innovativen und alternativen Lösungen entgegenzutreten. Unsere Mobilität wird und muss sich verändern. Das bedeutet sicherlich auch, dass man das eigene Verhalten anpassen und sich an neue Mobilitätsformen gewöhnen muss. Das wird vielen Menschen nicht leichtfallen. Deswegen ist es uns enorm wichtig, dass wir aufklären und die vermeintlichen Komfortverluste mit den richtigen Informationen entkräften. Denn durch die neue Planungsphilosophie können großartige und zukunftsweisende Chancen entstehen.
Die Stadt Bochum hat ein Mobilitätsleitbild erarbeitet, aus dem sich konkrete Maßnahmen ableiten. Das Wechselverhältnis von Stadtplanung und Verkehr soll bei allen Quartiersentwicklungen und bei der Infrastrukturplanung besondere Berücksichtigung finden. Inwieweit kann hier das Quartier Havkenscheider Höhe als eine Blaupause für künftige Projektentwicklungen bzw. für die Transformation des Stadtraumes dienen?
Wir möchten den Anteil des Autoverkehrs am Gesamtverkehr in Bochum von heute 55 % auf 40 % senken – der Umweltverbund von Fuß-, Rad- und öffentlichem Verkehr soll sich auf 60 % steigern. In der Havkenscheider Höhe entsteht in wenigen Jahren eine nachhaltige Form der Mobilität, die sich sicherlich zu einer Blaupause für die Stadt Bochum und weitere Städte in der dichtbesiedelten Region entwickeln kann. Was sich ganz klar abzeichnet: Viele Menschen suchen gezielt nach Wohnorten, in denen Rad- und Fußverkehr Vorrang haben. Der bisherige Vermarktungserfolg im OSTPARK für das Quartier Feldmark motiviert uns, in Zukunft noch mehr autoreduzierte Quartiere zu planen.
DR. MARKUS BRADTKE
© Lutz Leitmann
ist seit 2015 Stadtbaurat für die Stadt Bochum. Er promovierte an der Technischen Universität Dortmund, Fakultät Raumplanung, und war geschäftsführender Mitinhaber des Büros bms Stadtplanung. Außerdem war Dr. Markus Bradtke Technischer Beigeordneter der Stadt Ahaus sowie Stadtbaurat der Stadt Witten.
Autorin
Csilla Letay