Ubitricity
Um für die breite Masse als Mobilitätsalternative tauglich sein zu können, benötigt die E-Automobilindustrie eine flächendeckende und unkomplizierte Verfügbarkeit von Ladeinfrastruktur. Bislang findet sich diese größtenteils in Form von Wallboxen oder Ladesäulen auf privatem oder halbprivatem Gelände – in Zukunft hoffentlich auch im öffentlichen Raum. Eine Möglichkeit liegt in der Ausstattung von Straßenlaternen mit 230-Volt-Steckdosen.
Das Privileg des Elektroautos
Dass Elektroautos in der Anschaffung meist deutlich teurer sind als vergleichbare Verbrenner, ist eines der am häufigsten genannten Argumente gegen Stromer. Durch die von der Bundesregierung initiierten Förderprogramme ist es jedoch gelungen, Boni-Zahlungen zu veranlassen, die den Neupreis von Elektroautos um bis zu 10.000 € senken und die Preisniveaus einander annähern. Wenngleich dieses Problem, mit dem sich vor allem viele einkommensschwächere Haushalte in Bezug auf etwaige Anschaffungsüberlegungen konfrontiert sahen, behoben wurde, steht mit der Verfügbarkeit von Ladesäulen dennoch ein weiteres im Raum.
Laut Bundesnetzagentur beläuft sich die Anzahl an öffentlich zugänglichen Ladesäulen in Deutschland aktuell auf etwas mehr als 40.000. Parallel dazu wurden im vergangenen Jahr fast 400.000 Elektrofahrzeug neu zugelassen, etwa 200% mehr als noch im Jahr 2019. Hierdurch stieg der Bestand auf fast 600.000 an – Plug-In-Hybride inklusive. Das Verhältnis zeigt: Werden die Stromer in gleichem Maße genutzt, treten Probleme auf. Daher braucht es neben privaten Lademöglichkeiten dringend Ergänzungen im öffentlichen Raum.
Neue Stärke im Alten
Das auf dem Berliner EUREF Campus ansässige Start-Up ubitricity (zusammengesetzt aus „ubiquitous“ und „electricity“), das bereits 2008 von den Juristen Knut Hechtfischer und Frank Pawlitschek gegründet wurde, verfolgt einen gleichermaßen innovativen wie simplen Ansatz: Straßenlaternen, also ubiquitär verfügbare Stromquellen, werden mit Steckdosen ausgestattet, um auch „Straßenparkern“ uneingeschränkten Zugang zur Ladeinfrastruktur zu gewährleisten. Der Vorteil liegt nicht nur in der uneingeschränkten Erreichbarkeit, sondern ist obendrein weitaus günstiger als übliche Lademöglichkeiten: Während eine herkömmliche Ladesäule rund 15.000 € kostet und Schnellladestellen sogar im sechsstelligen Bereich liegen, werden für die Aufrüstung einer seit Jahren an Ort und Stelle stehenden Straßenlaterne höchstens 1.000 € fällig. Der Aufrüstungsprozess dauert zudem nicht länger als etwa eine halbe Stunde.
Effizient und unauffällig
Die ubitricity-Lösung punktet mit doppelter Effizienz – sie ist kostengünstig und einfach umsetzbar. Darüber hinaus behalten die Laternen ihre schlichte und unauffällige Optik. Für die Transformation vom klassischen Leuchtmittel zur praktischen Ladesäule braucht es nur die Installation eines kleinen Zusatzgadgets. Erst bei genauem Hinsehen fällt auf, dass es sich nicht um eine normale Laterne handelt: Die kleine Ausbuchtung für den Anschluss fügt sich in die Optik ein. Ein kleiner, leuchtender Punkt im oberen Bereich weist bereits aus der Ferne darauf hin, ob der Ladepunkt frei oder belegt ist
Smartes Laden
Zur einfachen Handhabung im Alltag bietet ubitricity ein für den Laternenmast kompatibles, smartes Ladekabel an, das vom Fahrzeughalter separat erworben und stets mitgeführt wird. Ein eingebauter Stromzähler garantiert die benutzerspezifische Abrechnung am Endes jedes Monats. Der Stromanbieter kann somit selbst ausgewählt werden. Insofern ist ein Höchstmaß an Handlungsfreiheit und Kostentransparenz gewährleistet.
Auf Basis der SmartCable-Technologie könnte das Elektroauto künftig sogar Teil des intelligenten Stromnetzes werden. Anhand der intelligenten Zählmethode kann nicht nur die geladene, sondern auch die Energie gemessen werden, die abgegeben wird – eine Innovation, die der Gesetzgeber zwar noch nicht vorsieht, die jedoch eine spannende Zukunftsperspektive darstellt: So könnte Kunden zum Beispiel der von ihnen abgegebene Strom auf der monatlichen Abrechnung gutgeschrieben werden.
Bundesrepublik noch zögerlich
In Großbritannien konnte ubitricity in den letzten Jahren rund 2.700 Ladepunkte in Laternen oder Straßenpollern verbauen und betreibt damit das größte öffentliche Ladenetzwerk für Elektroautos. In Deutschland geht die Entwicklung noch vergleichsweise schleppend voran: Hierzulande konnten die Berliner rund 80 Lade-Laternen installieren, was der seit 2019 amtierende Geschäftsführer Lex Hartman darauf zurückführt, dass andere Länder in der Entwicklung ihrer Ladeinfrastruktur deutlich weiter seien als die Bundesrepublik. Dennoch ist das Unternehmen überzeugt, dass innerhalb der kommenden fünf Jahre 200.000 Ladepunkte in ganz Europa entstehen können, obwohl es bis dato kaum mehr als 3.000 sind. Der Grund für diesen Optimismus liegt auf der Hand: Anfang 2021 übernahm Shell das Start-Up, das seither als hundertprozentiges Tochterunternehmen des britisch-niederländischen Ölriesen gilt.
Eine vielversprechende Kooperation
Während sich ubitricity durch die Übernahme einen größeren finanziellen Spielraum erhofft, der gleichzeitig solche Barrieren verkleinert, die der Expansion in andere Märkte im Wege stehen, fokussiert sich Shell auf den Ausbau der grüneren Unternehmenslinie. Ziel des Ölmultis: bis spätestens 2050 zum Netto-Null-Emissions-Energieunternehmen werden. Daher beteiligt sich der Konzern schon seit geraumer Zeit am wachsenden Markt der grünen Mobilität.
Ob das Berliner Start-Up, dessen Gründer mittlerweile neue Wege gehen, auch weiterhin unter altem Namen agieren wird, ist noch unklar. Eins steht fest: Die neuen Impulse der finanziell gestärkten Ladepioniere dürften schon bald in der deutschen Infrastrukturlandschaft spürbar werden. Sollte die für die nächsten fünf Jahre geplante Anzahl an Laternensteckdosen tatsächlich ihren Weg in die europäischen Städte finden, wird der Boom der Elektroindustrie wohl kaum zu bremsen sein.