ÜBER DIE GEMENGELAGE AUS TECHNOLOGISCHER VERÄNDERUNG, MARKTCHANCEN UND MACHTKONSTELLATIONEN
Herr Prof. Herrmann, Sie vertreten die Ansicht, dass Mobilitätsinnovationen oder auch technologische Entwicklungen in erster Linie mit dem Druck aus der Stadt heraus entstehen. Welche sind dabei die treibenden Faktoren?
Hier gibt es unterschiedliche Faktoren. Einer davon ist sicherlich das liberal-grüne Klientel, das sich in den Städten etabliert hat. In der Schweiz sind wir tendenziell eher konservativ, aber alle Städte werden liberal-grün regiert. Viele derjenigen, die grün wählen, haben einen hohen Bildungsstandard, ein besseres Einkommen und sie stehen Fortschrittsgedanken sehr offen gegenüber. Das ist meiner Ansicht nach eine wichtige Voraussetzung, um die Stadt in ein Versuchslabor für progressive Ideen zu verwandeln. Zudem konkretisieren sich im urbanen Raum im Grunde alle Verkehrsprobleme, die wir weltweit haben. Es gibt ein Problem des gigantischen Wachstums von Städten, was international betrachtet noch viel drastischer ist als in Deutschland. Durch die damit verbundenen Staus in Kombination mit einem unterentwickelten Nahverkehr, werden die Menschen im Prinzip immobil. Dann haben wir die Themen Emissionen und Kampf um Fläche, denn wir können nicht einfach beliebig neue Trassen und Spuren bauen – das gilt vor allem für asiatische Städte, die eine sehr hohe Dichte haben. Gemeinsam mit dem Geist der Städte führen diese Faktoren gerade zu einem Aufbruch.
Prof. Dr. Andreas Herrmann
Dahingehend sieht es in den Stadtregionen und im ländlichen Raum etwas anders aus ...
Ja, und ich glaube, dass es eine sozialpolitische Aufgabe ist, die Mobilität und Infrastruktur im ländlichen Raum – aber nicht nur dort – bereitzustellen, um die Menschen ans städtische Leben, an Erwerbstätigkeit und Dienstleistungen anzubinden. Es gab auch in Deutschland viele privatwirtschaftliche Initiativen mit Shuttles oder Ruf-Taxis, die letztendlich scheiterten, da es sich unter Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten einfach nicht lohnt. Es darf aber nicht sein, dass es nur dann eine gute Anbindung gibt, wenn sich damit Geld verdienen lässt. Eine gute Mobilität in ländlichen Gebieten ist dann möglich, wenn sie über Steuermittel und – unterstützend – über Ticketeinnahmen finanziert wird. Man muss vielleicht sogar so weit gehen, Mobilität quasi als Menschenrecht zu sehen: So wie wir ein Anrecht auf eine medizinische Versorgung haben, haben wir auch ein gewisses Anrecht auf eine Mobilitätsversorgung.
Ist also öffentliche Mobilität nicht in einen marktwirtschaftlichen Kontext zu bringen?
Ich bin nicht sicher, ob die marktwirtschaftliche Perspektive die richtige ist. Sehen sie nur, was mit der Deutschen Bahn passiert ist, als sie kapitalmarktfähig gemacht werden sollte: Wir erleben hier einen enormen Investitionsstau. Dabei gibt es eine Reihe von Anhaltspunkten dafür, dass es sich für einen Staat lohnt, Mobilität bereitzustellen. Nehmen wir die Schweiz. Die Arbeitslosigkeit ist auf einem niedrigen, die Einkommen auf einem hohen Niveau.
Das hat auch damit zu tun, dass die Menschen hochmobil sind, weil die bereitgestellte Mobilität zuverlässig ist. Ich kann hier in St. Gallen wohnen und fast jeden Ort der Schweiz – Genf ausge-nommen – morgens innerhalb einer Stunde erreichen und abends wieder zurückpendeln. Mittelbar generiert eine effiziente Mobilität auch höhere Steuereinnahmen und hat demnach einen positiven Effekt auf die Volkswirtschaft.
Prof. Dr. Andreas Herrmann
Würde eine solche hoheitliche Aufgabe denn auch mehr Regulierung bedeuten?
Nicht zwingend. Dieser Ansatz bedeutet nicht, dass der Anbieter von Shuttles, Fahrzeugen oder Nahverkehrsdienstleistungen zwangsläufig der Staat sein muss, das können auch Private sein.
Der entscheidende Punkt aber ist: Man kann nicht erwarten, dass jede einzelne Strecke immer kostendeckend betrieben werden kann. Davon müssen wir Abschied nehmen. Mobilität auf diese Weise bereitzustellen, lohnt sich auch, weil Menschen so eine Perspektive geboten wird, weil sie teilnehmen können am sozialen Leben. Das finde ich einen Wert per se.
Mobilität ist im wahrsten Sinne das Vehikel für gesellschaftliche Teilhabe, aber auch für die Daseinsvorsorge und Versorgung. Wie können Shared Mobility oder auch On-Demand-Dienste für die von Ihnen skizzierte staatliche oder kommunale Versorgung eine Lösung sein?
Shared Mobility ist natürlich ein Hebel, um – angesichts einer aktuell sehr niedrigen Auslastung von Fahrzeugen – einerseits Verkehr und andererseits Mobilitätskosten zu reduzieren. In dem Kontext könnte die zunehmende Fahrzeugautomation bzw. autonome Fahrzeuge eine wichtige Hilfe bieten. Es gibt schon erste Konzepte beispielsweise von Mobileye, die mit autonomen Transportern verlorene Dienstleistungen wieder aufs Land zurückbringen. Da kommt dann z.B. ein mobiler Lebensmitteltransport. Es geht ja nicht nur darum, dass die Menschen dort keinen Anschluss mehr an das städtische Umfeld haben, sondern auch darum, dass in ländlichen Regionen Dienstleistungen verschwinden. Es gibt beispielsweise keine oder nicht mehr genügend Ärzte vor Ort. An dieser Stelle kann durch Mobilität etwas verändert werden, indem Waren oder Dienstleistungen zu den Menschen gebracht werden. In den nächsten Jahren werden wir dabei noch einige Konzepte erleben – manche werden sich bewähren und andere werden nicht angenommen werden.
Nun erlebt man ja bei den Technologien im Mobilitätssektor gerade einen Push an neuen Entwicklungen, an neuen Unternehmen – hier ein Start-up, da ein Joint Venture. Möglicherweise wird es erst einmal ein Überangebot geben. Wie sehen Sie die Konsolidierung dieses Marktes? In welchem Zeitkorridor kann man da denken?
Sie haben völlig Recht. Wir haben im Moment eine Vielzahl von Firmen, die in den Mobilitätsmarkt hineinstürmen, da die Markteintrittsbarrieren durch neue Technologien massiv gesunken sind. Ich brauche lediglich einen Laptop, um damit eine App zu generieren. Wenn solche Märkte aufgehen, stürmt jeder rein und es kommt zur Konsolidierung von zwei Seiten her. Einmal von der Angebotsseite, weil es zu viele Kleine gibt, die übernommen werden, weil sich bestimmte Technologien nicht durchsetzen, während andere dominieren. Das findet zum Beispiel schon beim autonomen Fahren statt: Es gab fünf bis sechs Ansätze, wie man solche Fahrzeuge steuern kann – aktuell setzen sich ein bis zwei Konzepte durch, die von Mobileye und Waymo geprägt werden. Und darauf werden sich im Prinzip andere einschießen.
Es findet aber auch eben auf der Nachfrageseite eine zwingende Konsolidierung statt. Beispiel: Heute hat auch jede Stadt ihre eigene Mobilitäts-App. Wenn Sie durch Deutschland reisen, können oder müssen Sie 50 Apps dafür nutzen und jede funktioniert anders. Irgendwann wird dies im Sinne der Handhabbarkeit zusammengeführt werden. An der Stelle muss man dem Markt ein wenig Zeit geben. In unserem marktwirtschaftlichen System überlassen wir diesen Prozess dem Spiel der Kräfte, statt etwas von oben zu verordnen, und wahrscheinlich ist das auch der bessere Weg.
Ist der Staat denn flexibel genug, um auf die Marktdynamik zu reagieren und notwendige Regularien oder Rahmenbedingungen anzupassen? Letztes Jahr wurde das deutsche Gesetz zum autonomen Fahren verabschiedet, um ein Positivbeispiel zu nennen ...
Bei der Erstellung dieses Gesetzes war ich involviert. Es markiert einen wichtigen Schritt, dass wir in entsprechendem rechtlichen Rahmen mit diesen hochautomatisierten Fahrzeugen in den Regelbetrieb gehen können. Vielen Ländern dient dieses Gesetz als Vorlage, die sie an ihre Belange anpassen. Ich denke nicht, dass der Regulator der Engpass ist. Auch die Technologie ist es nicht.
Am Ende ist es unser eigenes träges Mobilitätsverhalten, das es so schwierig macht, einen Wandel herbeizuführen. Wir steigen nun einmal morgens routinemäßig ins Auto und nutzen nicht die Mikromobilität oder andere Services. Das ist im Prinzip die große Hürde, an der wir arbeiten müssen.
Sie sagten soeben, es würden sich in der Regel wenige Anbieter für ein bestimmtes Angebot durchsetzen. Kann man davon ausgehen, auch mit Blick auf unser eigenes Mobilitätsverhalten, dass es dann auch genau das Produkt oder der Service mit der höchsten Usability sein werden?
Es sind zwei Aspekte entscheidend dabei, wer sich durchsetzt. Der eine ist Usability. Der andere ist Skalierbarkeit. Wir reden insbesondere bei Software-Lösungen über ein skalengetriebenes Geschäft. Wenn Sie Ihre App nicht nur in Deutschland, sondern auch in den USA oder auch anderswo auf der Welt vermarkten können, dann haben Sie im Prinzip den Hebel in der Hand. Darum werden am Ende nur sehr wenige Anbieter übrigbleiben. Diese werden die einfachsten Lösungen anbieten, die auch leicht in verschiedene kulturelle Räume übertragen werden können. Diese werden den Markt aufgrund ihrer Skaleneffekte klar dominieren, weil die Kosten massiv nach unten gehen, wenn die Nutzerzahlen um ein Vielfaches steigen. Aus anderen Bereichen kennen wir diese Mega-Apps bereits. Insofern werden wir meiner Ansicht nach in diesem Bereich relativ schnell einen Konsolidierungsprozess sehen.
Die Veränderung des gesellschaftlichen Mobilitätsverhaltens sowie die allgemeine Akzeptanz von neuen Entwicklungen – speziell hinsichtlich autonomen Fahrens – kalkulieren Sie hingegen in Dekaden. Werden wir tatsächlich noch so lange brauchen?
Ja, ich glaube schon, dass Mobilitätsverhalten nur in the long run verändert werden kann. Das hat verschiedene Gründe. So haben sich die Verkehrsträger seit ihrem Bestehen nie verändert: Wir fahren heute noch genauso Zug wie damals das erste Mal von Nürnberg nach Fürth. Wir steigen in den Wagen ein, zeigen dem Schaffner das Ticket und steigen dann an einer anderen Haltestelle wieder aus. Das hat sich in über 180 Jahren deutscher Bahngeschichte nicht verändert. Auch beim Auto hat sich nichts verändert: Man kauft ein Auto und fährt es dann. Hinzu kommt noch, dass das Auto emotional aufgeladen ist. Das hat etwas mit Status zu tun, mit Selbstachtung und was das Marketing uns noch dazu verkauft. Diese Gefühle sitzen sehr tief und wurden über Generationen hinweg gelernt und vererbt. Die gesellschaftliche Bedeutung des Autos lässt sich nicht so leicht verändern.
Ein gewisser Wandel wird trotzdem schon deutlich: Ich denke da an meine Kinder – die haben mit 18 Jahren nicht sofort den Führerschein machen wollen. Das war das Erste überhaupt, was wir damals in dem Alter getan haben. Heute ist das Smartphone viel wichtiger, um sich innerhalb der Gesellschaft zu orientieren. Darum glaube ich schon, dass es eine ganze Generation braucht, um diesen Bruch hinzubekommen. Wenn Sie an Ihre eigenen Gewohnheiten und Routinen denken, haben Sie sicher auch schon gemerkt, wie schwierig es ist, sich da umzustellen.
Wenn wir am Beispiel eines neuen Autos eine Investition abwägen, dann treffen wir unsere Entscheidung in der Regel im Rahmen einer Kosten-Nutzen-Analyse mit Blick auf persönliche Bedürfnisse und somit vordergründig im Rahmen einer privaten Angelegenheit. Wenn wir das Thema aber umfassender, das heißt in einer gesamt- gesellschaftlichen Perspektive analysieren und auch Aspekte wie Klimafolgen in diese Abwägung einpreisen würden, müssten wir nicht eigentlich zu einem anderen Kosten-Nutzen-Ergebnis gelangen und anders handeln?
Das ist ein interessanter Punkt, den Sie aufwerfen. Ich denke, es gibt zwei Gründe dafür: Zum einen haben wir mit unserem individuellen Verhalten nur einen marginalen Einfluss auf die welt- weite Klimaerwärmung. Die Auswirkung einer Autofahrt von Köln nach Frankfurt lässt sich nicht einmal messen, so gering ist sie. Das heißt, es ist schwierig, wenn im Prinzip das Zusammenspiel von Verhalten und Wirkung nicht erlebbar ist. Zum anderen treten die Auswirkungen unseres Verhaltens mit einem großen Zeitverzug auf. Das ist problematisch. Aus der Lerntheorie wissen wir, dass eine Belohnung oder Bestrafung als Reaktion auf ein Verhalten eigentlich unmittelbar spürbar sein muss. Beim Thema Klimawandel funktioniert das so nicht. Und genau da ist das Problem. Dennoch sind wir alle betroffen vom Klimawandel. Es gibt niemanden, der es nicht ist. Nur spüren wir das bisher meist noch sehr abstrakt. Darum ist eine allgemeine Verhaltensänderung dahingehend so unglaublich schwierig. Überall dort, wo Sie direkte Implikationen spüren, ändern Sie Ihr Verhalten ganz schnell.
Vom Individuum zur Automobilindustrie: Hier gibt es mittlerweile auch die marktwirtschaftliche Notwendigkeit, Veränderungsprozesse zu leisten – aber reicht das aus?
Die Automobilindustrie steht unter massivem Druck, denn 40 bis 45 % der Wertschöpfung beim E-Auto stecken in der Batterie sowie der Steuerungssoftware. Die Komponenten kommen heute aus Asien. Wir haben nicht einmal ein eigenes Batteriewerk in Europa. Aber die entsprechenden Unternehmen geben viele Millionen aus, um über Lobbyarbeit in Brüssel die benötigten Veränderungsprozesse zu verschleppen. Kaum eine Industrie hat in den letzten Jahrzehnten so viel Geld verdient wie die Automobilindustrie – und plötzlich steht das gesamte Geschäftsmodell auf dem Prüfstand und massiv unter Druck. Was wir sehen, ist Schadensbegrenzung. Wenn es einer Branche sehr, sehr gut geht und es zu einer technologischen Veränderung kommt, sind es typischerweise nicht die ursprünglichen Marktführer, die eine Vorreiterrolle einnehmen können. Diese Rolle übernehmen neue, oft dynamischere Unternehmen. Neue Standorte der Automobilindustrie entstehen in Israel, in Korea, in Finnland – und eben nicht in Wolfsburg oder Ingolstadt. Es macht Spaß, in Israel E-Autos zu bauen, weil man die Unter- nehmen für diesen Zweck optimiert aufbauen kann und nicht wie in Deutschland auf verschiedenste gewachsene Strukturen Rücksicht nehmen muss, die im Prinzip die alte Welt erhalten wollen.
Auch China hat das Thema bereits 2015 forciert und angekündigt, die E-Mobilität zu fördern. Weil es einerseits die Chance auf eine Führungsrolle sieht und andererseits in dem Wissen, dass dann alle nachziehen müssen – schließlich ist China ein riesiger Absatzmarkt. Heute ist das Land nicht mehr weit weg davon, den Markt global zu dominieren. Auch wenn Tesla die Schlagzeilen anführt, hat China im Hintergrund zahlreiche Unternehmen aufgebaut und bietet sich selbst den wichtigsten und größten Zukunftsmarkt für E-Autos. All diese neuen Akteure haben früh erkannt, dass sie an den deutschen Verbrennungsmotor mit 130 Jahren Vorsprung nicht mehr herankommen. Wir sehen eine Gemengelage aus technologischer Veränderung, Marktchancen und Machtkonstellationen in dieser riesigen Industrie.
Vielen Dank für Ihre spannenden Ausführungen.
Prof. Dr. Andreas Herrmann
Prof. Dr. Andreas Herrmann | © privat
ist Professor für Betriebswirtschaftslehre und Co-Direktor des Instituts für Mobilität an der Universität St. Gallen. Er ist zudem u.a. Visiting Professor an der London School of Economics (LSE Cities) sowie an der Stockholm School of Economics und leitet das Executive-Education- Programm zu Smart-Mobility-Management. Herrmann veröffentlichte 15 Bücher u.a. zum autonomen Fahren und mehr als 250 wissenschaftliche Aufsätze in führenden internationalen Zeitschriften.
Autorin
Csilla Letay