Virtuelle Kraftwerke als Baustein in der Energiewende
„Die Energieversorgung in Deutschland verändert sich gerade massiv – weg von zentralen Großkraftwerken hin zu kleinteiligeren verteilten Erzeugungsstrukturen. Stromerzeugung, -speicherung und -verbrauch werden zunehmend dezentral auf Ebene von Wohn- bzw. Gewerbequartieren bis hin zu einzelnen Gebäudeeinheiten gesteuert. Dadurch werden auch einstige Branchengrenzen zwischen Energiewirtschaft, Bau- und Immobilienbranche sowie Stadtentwicklung neu definiert“, sagt Prof. Verena Rath von der Hochschule Biberach. Dort koordiniert die Expertin für Marketing, Energie und Mobilität den BWL-Studiengang, der die Studierenden auf die Herausforderungen künftiger klimaneutraler Energiesysteme sowie Stadt- und Quartiersentwicklung vorbereiten soll.
Die Energiezukunft ist dezentral, digital und erneuerbar. Große konventionelle Kraftwerke (Gas, Kohle, Atom) gehen vom Netz, während zeitgleich die erneuerbaren Energien ausgebaut werden. Eine der wesentlichen Herausforderungen dabei ist es, die bisher hauptsächlich von Großkraftwerken übernommene Netzstabilisierung weiterhin zu gewährleisten. Denn trotz der zunehmenden Anteile von volatilen Energieträgern wie Wind und Sonne und neuen Verbrauchern muss das Netz ausgeglichen sein – und zwar auf allen Netzebenen. Es steigt also der Bedarf an Flexibilität, sowohl auf Erzeugerwie Verbraucherseite.
„Der Ariadne-Szenarienreport schätzt den Flexibilitätsbedarf zur Deckung von Erzeugungslücken auf ca. 100 bis 120 TWh jährlich im Jahr 2045 – das ist zehnmal der Stromverbrauch von Hamburg heute oder so viel, wie Deutschland in zwei Monaten in 2022 verbraucht hat“, sagt Daniel Zahn. Der Ingenieur arbeitet beim Fraunhofer-Institut für Energiewirtschaft und Energiesystemtechnik (Fraunhofer IEE) als Produktverantwortlicher des virtuellen Kombikraftwerkssystems EnergyConnect. Mit Flexibilitäten meint er Technologien, die Energie sowohl ganz kurzfristig über einige Stunden, aber auch wochenlang aufnehmen, speichern und abgeben können: mit Biomasse betriebene Blockheizkraftwerke, Pumpspeicher, Stromspeicher oder Power-toX-Anlagen, die Strom in Wärme, Wasserstoff oder synthetische
Kraftstoffe umwandeln. Wenn gleichzeitig auch der Verbrauch flexibler wird, macht das den Ausgleich noch einfacher. „Für die klimaneutrale Stromversorgung von morgen brauchen wir Anbieter, die kleine, flexible Verbraucher wie Elektroautos, Wärmepumpen oder Batteriespeicher bündeln und damit die wertvolle Flexibilität dieser Assets zugänglich machen“, meint Prof. Katrin Schaber. Die Kollegin von Prof. Verena Rath forscht in Biberach zur Sektorkopplung und der Integration erneuerbarer Energien.
Ein Virtuelles-Kraftwerk-Leitsystem | © Next Kraftwerke
Eben diese Bündelung können virtuelle Kraftwerke, auch Schwarm- oder Kombikraftwerke genannt, leisten. Sie fassen kleine und kleinste Erzeuger und Speicher zusammen, um damit zunehmend die Großkraftwerke zu ersetzen. Über diese Schwarmkraftwerke können die kleineren dezentralen Anlagen im Verbund auf den verschiedenen Energiemarktplätzen wie der Strombörse agieren. Sie können aber auch den Netzbetreibern Dienstleistungen zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit anbieten. Ein solcher netzdienlicher Service ist die sogenannte Regelreserve, mit der kurzfristige Abweichungen von Erzeugung und Verbrauch (etwa aufgrund von Kraftwerksausfällen oder Prognoseabweichungen) ausgeglichen werden. Dieser Markt ist für kleine Erzeuger und Verbraucher ohne vorherige Bündelung über virtuelle Kraftwerke nicht zugänglich. Da sich Prognosefehler bei Tausenden zusammengeführten Anlagen leichter von selbst ausgleichen, macht es außerdem wetterabhängige Erzeuger wie Wind- und Solarparks leichter vorhersehbar. Das virtuelle Kraftwerk ist die Technologie dafür – eine digitale Plattform zur Vernetzung unterschiedlichster Energieanlagen mit modernster Software- und Kommunikationstechnologie.
Schwarmkraftwerke für das Lastmanagement
Wer eine PV-Anlage auf dem Dach hat, kennt das Problem: Bei sinkenden Einspeisepreisen ist es am besten, den Strom einfach selbst zu verbrauchen, denn günstiger als zugekaufte Energie ist selbstproduzierter Strom immer. Im Detail ist das aber nicht so einfach. Die Waschmaschine nur anmachen, wenn die Sonne scheint, ist kein großes Problem, aber nur bei Sonne fernzusehen oder zu kochen, schränkt doch ein. Was im kleinen Maßstab vielleicht noch mit Nachdenken und über Verhaltensänderung funktioniert, wird auf kommunaler oder regionaler Ebene noch komplexer.
Im sogenannten Lastmanagement sieht Tara Esterl jetzt schon eines der großen Potenziale virtueller Kraftwerke: „Bisher gänzlich unbeobachtete Verbraucher wie Wärmepumpen, Boiler, Elektroautos, Batteriespeicher, oder andere Komponenten, beispielsweise der Industrie, beobachtbar zu machen, und das Verhalten dieser Komponenten im Falle des virtuellen Kraftwerkes sogar beeinflussen zu können, bietet enorme Vorteile. Durch die Lastverschiebung ist beispielsweise eine sehr gezielte Nutzung der Erneuerbaren zum Zeitpunkt der Erzeugung möglich, der restliche systemübergreifende Speicherbedarf lässt sich dadurch reduzieren. Außerdem können hohe Gleichzeitigkeitsfaktoren von Erzeugungs- oder Verbrauchskomponenten besser reguliert und damit auch der Netzausbaubedarf verringert werden.“
Netzintegration der E-Mobilität: Bidirektionales Laden noch in den Kinderschuhen
Was bedeutet es für den Energiemarkt, wenn Fahrzeugflotten zunehmend elektrisch betrieben werden? Nicht nur steigt damit der Stromverbrauch, sondern auch die Flexibilität – wenn die Potenziale klug kombiniert werden. Auf die Frage, wie die Speicher- und Ladeleistung von Elektrofahrzeugen denn abgerufen und gesteuert werden könne, antwortet Daniel Zahn: „Je mehr Ladepunkte ich zusammenfasse, desto zuverlässiger und vorhersehbarer wird das Laden.“ Zusammen mit historischen Daten und künstlicher Intelligenz werde sich so in Zukunft das Speicherpotenzial der Fahrzeuge in virtuellen Kraftwerken vermarkten lassen. So sieht es auch Prof. Katrin Schaber. „Die Regelleistung muss immer bereit sein. In der Konsequenz wurden die Pilotversuche immer nur mit stehenden Autos (oder Batterien aus selbigen) durchgeführt. Hier muss sich die Regulatorik noch weiterentwickeln, damit auch ein statistisch sicher vorhandener Teil der Fahrzeugflotte an der Regelleistung teilnehmen kann.“ Daniel Zahn ergänzt: „Das bidirektionale Laden ist eine große Chance, steckt aber noch in den Kinderschuhen.“
Der Weg dahin ist aber absehbar. „Im kurzfristigen Stromhandel können schon heute gerade gewerblich betriebene Fuhrparks erhebliche Kostenvorteile erzielen, wenn immer zu günstigen Preisen geladen wird“, sagt Prof. Katrin Schaber. Dafür gibt es schon heute Anbieter, die sozusagen Sub-Schwarmkraftwerke betreiben und die Ladepunkte über einen lokalen Controller zusammenschalten und steuerbar machen. Die Software übernimmt quasi die „Übersetzung“ zu den verschiedenen Schnittstellen der Ladepunkte. Am Spotmarkt kann der Verbund gemeinsam teilnehmen und wird gemeinsam abgerechnet. Perspektivisch könnte daraus ein Element werden, das dann wieder in einem größeren Kombikraftwerk eingebunden werden kann. Für private Haushalte könnte in den nächsten Jahren Ähnliches möglich werden. Derzeit übernehmen die Versorger bisweilen eine ähnliche Rolle: „Mehr und mehr Stromversorger bieten auch Tarife an, in denen z.B. die Batterieflexibilität innerhalb des Stromtarifs vermarktet wird. Wer ein E-Auto hat, definiert dann ein Zeitfenster, in dem das Fahrzeug geladen werden soll und überlässt die preisoptimale Steuerung dem Stromversorger“, erklärt Prof. Katrin Schaber.
Das virtuelle Kraftwerkssystem EnergyConnect des Fraunhofer IEE bündelt ein Anlagenportfolio von über 4 GW installierter Leistung, es wurde seit 2010 in zahlreichen Forschungsprojekten und im langjährigen operativen Einsatz bei Wirtschaftspartnern zu einer robusten, sicheren und skalierfähigen Lösung mit moderner Web-Oberfläche weiterentwickelt. | © Fraunhofer IEE
Wo liegt das virtuelle Kraftwerk denn wirklich?
Viele, meist unabhängige Aggregatoren sind mit ihren Schwarmkraftwerken bereits am Strommarkt aktiv. Die Preise an den Spot- und Regelreservemärkten werden zunehmend grenzüberschreitend und europäisch gebildet. Hier ist es also in der Regel unerheblich, wo genau sich die Anlage befindet, die in ein virtuelles Kraftwerk eingehen soll. „Möchte man potenzielle Engpässe im Übertragungsnetz beseitigen, welche durch eine geografische Ungleichverteilung von Erzeugung und Verbrauch und zu geringen Übertragungskapazitäten verursacht werden, spielt die örtliche Verteilung der einzelnen Anlagen im Gebot hingegen eine essenzielle Rolle“, erklärt Regina Hemm vom AIT Center for Energy.
Schon bald werden aber auch die unteren Netzebenen mehr in den Fokus rücken, meinen die Expert:innen übereinstimmend. „Wir werden immer mehr E-Fahrzeuge und Wärmepumpen haben, da muss es auch auf den unteren Netzebenen eine sinnvolle Koordinierung von Erzeugung und Verbrauch geben“, sagt Daniel Zahn. Kombikraftwerke könnten hier Kleinstanlagen bündeln und über regionale Flexibilitätsplattformen das Netz entlasten. Doch nicht nur dabei spielt es dann doch eine Rolle, wo sich die Energieanlagen des Schwarmkraftwerks wirklich befinden: „Möchte der Verteilnetzbetreiber das virtuelle Kraftwerk für den verteilnetzdienlichen Betrieb nutzen, ist die genaue Verortung der Teilkomponenten im Netz von höchster Relevanz“, erklärt Tara Esterl. „Für diesen Anwendungsfall gibt es allerdings derzeit keine einheitliche Vorgehensweise.“ Die AIT-Expertinnen sehen hier große Chancen, sich jetzt einen Marktvorteil zu erarbeiten. Die Rahmenbedingungen im Energiemarkt könnten sich schon bald ändern.
Wo gibt es Handlungsbedarf?
Apropos Rahmenbedingungen. Daniel Zahn sieht gleich an mehreren Stellen Verbesserungsbedarf: Zum Ersten würden derzeit sowohl die Strompreiszone als auch die Netzentgeltregulatorik für den regionalen Einsatz von Flexibilitäten im Energiesystem kontraproduktiv wirken. Variable und smarte Tarife für Haushalte könnten erst ihre volle Wirkung entfalten, wenn es regionale Märkte und Preise gäbe. Lokal Angebot und Nachfrage aufeinander abzustimmen – dort, wo der Strom verbraucht und zunehmend auch produziert wird – könnte die Häufigkeit von Engpässen im Netz senken. Was heißt das für den Einsatz von virtuellen Kraftwerken? „Zur Vermeidung von Netzengpässen gibt es derzeit noch sehr viele offene Forschungsfragen, wie die Wahl der Aggregationsebene oder welche Informationen von welchen Stakeholdern benötigt werden“, erklärt Regina Hemm.
Eine weitere Herausforderung sieht Daniel Zahn derzeit darin, dass große Kombikraftwerkslösungen nur dann wirklich skalieren, wenn sich die Anlagen per Plug & Play anbinden lassen. „Dies ist derzeit am leichtesten für die Hersteller von Energieanlagen, wie z.B. Sonnen für Batteriespeicher. Wir brauchen deswegen neben der Standardisierung neue Ansätze wie Energiedatenräume zum vertrauenswürdigen Datenaustausch sowie digitale Identitäten zur sicheren Authentifizierung.“ So könnte der Aufwand sinken, Anlagen verschiedener Hersteller und Anbieter zusammenzufassen. Bislang sei die Diversität am Markt ein großer Entwicklungsaufwand für die Anbieter von Schwarmkraftwerkssystemen. „Damit ein virtuelles Kraftwerk beispielsweise auch von einer Bürgerenergiegemeinschaft einfach betrieben werden kann, muss es noch zu einigen Vereinfachungen kommen“, meinen auch Tara Esterl und Regina Hemm.
Größere bürgerschaftliche Energie-Initiativen haben sich trotzdem bereits auf diesen Weg gemacht. Die aus der Anti-Atomkraft-Bewegung gewachsenen genossenschaftlichen Elektrizitätswerke Schönau (EWS) kooperieren bereits seit zwei Jahren mit dem Direktvermarkter ane.energy. Anfänglich integrierte der Vermarkter 50 MW der von EWS installierten Leistung in sein eigenes virtuelles Kraftwerk, das Leistung direkt für Großkunden bereitstellte (Power Purchase Agreement). Inzwischen haben die EWS selber die Kontrolle über das Schwarmkraftwerk, ane.energy stellt in der Partnerschaft nunmehr die Software bereit. So macht die Technologie auch kleinere Player handlungsfähiger – echte Energiewende von unten.
Autor
Jan Klein