Köln: 11.–12.06.2025 #polismobility

DE Icon Pfeil Icon Pfeil
DE Element 13300 Element 12300 EN
Wer steuert die Verkehrswende?!

Wenn der Transformation das Personal ausgeht

Seite teilen
DruckenSeite drucken Lesedauer ca. 0 Minuten

Ist von der Verkehrswende die Rede, geht es immer auch um den ÖPNV. Um die Ziele zu erreichen, auf die sich Bund und Länder geeinigt haben, müssen bis 2030 mindestens ein Drittel mehr Busse und Bahnen als heute unterwegs sein. Wie kann das in Zeiten des Fachkräftemangels gelingen?

Fahrende U-Bahn in einem U-Bahnschacht. An der mint gefliesten Wand ist ein gelbes Kampagnen-Plakat der BVG angebracht.

© Berliner Verkehrsbetriebe (BVG)

Der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) befindet sich in einer komplizierten Lage. Einerseits ist er auf dem Weg zu einer nachhaltigen Mobilität eine essentielle Säule, auf die Bund und Länder zwingend bauen müssen: Ohne ein gut ausgebautes, verlässliches Transportsystem ist die Abkehr vom motorisierten Individualverkehr kaum zu erreichen. Andererseits zeigt genau dieser steigende Bedarf die Probleme auf, mit denen sich die Branche zurzeit und in naher Zukunft auseinandersetzen muss: Die Personalsituation ist, mild formuliert, angespannt.

Das Ziel, bis 2030 ein Drittel mehr Busse und Bahnen als heute auf Straße und Schiene zu bringen, ist nicht nur dadurch stark gefährdet, dass in genau diesem Zeitraum laut Verband der Verkehrsunternehmen (VDV) etwa 80.000 Beschäftigte der Boomer-Generation in Rente gehen werden. Auch die Nachwuchssituation ist kompliziert, was nicht nur auf jahrzehntelange politische Sparvorgaben im öffentlichen Verkehrssektor, sondern auch auf die geringe Attraktivität der Branche für potentielle Bewerber:innen zurückzuführen ist. Harald Kraus, Vorstandsvorsitzender der VDV-Akademie und Vorstandsmitglied und Arbeitsdirektor bei der Dortmunder Stadtwerke AG (DSW21), kennt die Gründe dafür: „Junge Menschen schauen bei der Berufswahl verständlicherweise auf Faktoren wie Flexibilität und Freiheit. Mit vorgegebenen Routen und einer knappen Zeittaktung ist der Fahrdienst häufig nicht die erste Wahl“, sagt er. Damit sei der Nahverkehr eine der Branchen, die am härtesten von der „neuen Realität des Arbeitsmarktes“ getroffen werden.

Verschiedene Expert:innen gehen von einem Bedarf an 110.000 neuen Beschäftigten im Nahverkehr aus, um die Verkehrswendeziele zu erreichen. Laut Kraus ist das sogar noch ein eher konservatives Szenario: „Wenn wir wirklich etwas verändern möchten, sind es sicherlich 170.000; mindestens die Hälfte davon im Fahrdienst.“ Die Verkehrsunternehmen müssen sich also neu erfinden, um ihrer Rolle als Stütze der Verkehrswende gerecht zu werden – jetzt und vor allem in Zukunft. Denn wie soll ein öffentliches Nahverkehrssystem günstig, gut getaktet und in der Breite verfügbar sein, wenn das Personal fehlt? Der VDV sieht eine Stärkung der Personal- und Employer-Branding-Strategie als erforderlichen Schritt an, um den ÖPNV langfristig zu erhalten und darüber hinaus die notwendigen Wachstumsziele zu erreichen.

Was tun, wenn die Leute fehlen?

Dies erfordert eine neue Art der unternehmerischen Kreativität. Um die eigene Attraktivität auf dem Arbeitsmarkt zu erhöhen, machen einige Verkehrsunternehmen aus der Not eine Tugend und gehen offensiv mit den Problemen um, denen sie sich ausgesetzt sehen. Die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) etwa, die in der Vergangenheit bereits häufiger mit findigen Social-Media-Kampagnen aufgefallen ist, wirbt aktiv um Quereinsteiger:innen und hat die Profilanforderungen gesenkt, um Einstiegsbarrieren abzubauen. In Form eines 3-Punkte-Plans soll der Mangel an Fahrpersonal überwunden werden. Neben Werbemaßnahmen, die mithilfe zahlreicher Mitarbeiter:innen-Statements die Offenheit des Unternehmens illustrieren, und Recruiting-Events auf den Betriebshöfen beinhaltet dieser eine deutliche Verbesserung der Arbeitsbedingungen sowie eine bessere Zusammenarbeit mit kommunalen und Landesbehörden. Die Bemühungen scheinen bereits Früchte zu tragen: So wurden im Jahr 2023 laut BVG rund 650 Busfahrer:innen eingestellt, 70 Prozent mehr als im Vorjahr. Die Karrierewebsite des Unternehmens wurde im selben Zeitraum 60 Prozent häufiger angeklickt als noch 2022.

Kampagnenplakat zeigt eine Frau in einer roten Bluse, die mit einem Auge zwinkert.

© Dortmunder Stadtwerke AG (DSW21)

Auch andere Verkehrsunternehmen schlagen diesen Weg ein. Die Rheinbahn aus Düsseldorf etwa konnte durch eine Social-Recruiting-Kampagne über verschiedene Kanäle innerhalb von drei Monaten etwa 1.000 Bewerbungen verzeichnen. Seitdem führt das Unternehmen in regelmäßigen Abständen Bewerbungstage durch, die im Jahr 2023 eine Zusagenquote von etwa 50 % erreichten. Das Erfolgsrezept ist dabei, so formuliert es eine Mitarbeiterin auf Nachfrage, die Platzierung von authentischen Video-Einblicken in genau den Netzwerken, in denen die Zielgruppen abgeholt werden: Für den Fahrdienst waren das eher Facebook und Instagram, für Auszubildende zusätzlich TikTok. Links zu den jeweiligen Bewerbungsformularen konnten unterhalb des Videos gefunden werden, was den Bewerbungsprozess beschleunigte.

Internationale Beziehungen spielen lassen

Die Personalsituation im Nahverkehr stellt nicht nur die Medienaffinität, sondern auch die interkulturelle Kompetenz der Verkehrsunternehmen auf die Probe. Die Essener Ruhrbahn spricht seit einigen Jahren etwa gezielt Menschen mit Migrationshintergrund an, indem Werbeplakate nicht nur auf Deutsch, sondern auch auf Griechisch, Türkisch oder Ukrainisch zur Bewerbung einladen. Neben der einfachen Akquise soll diese Maßnahme auch dazu führen, dass die bereits eingestellten Fahrer:innen Kontakte in ihre Herkunftsländer nutzen, um Freund:innen oder Familienmitglieder möglicherweise ebenfalls zum Einstieg zu bewegen. Die EU-weite Suche nach Bewerber:innen ist in der Branche generell bereits weit verbreitet; auch durch professionelle Personalvermittler:innen, die vorwiegend in Ost- und Südosteuropa geeignetes Fahrpersonal rekrutieren.

Dabei bestehen aber einige Risiken, wie die teils fragwürdigen Bedingungen zeigen, unter denen viele Gastarbeiter:innen in den 1960er- und 1970er-Jahren in die Bundesrepublik gelotst wurden. Aus diesem Grund setzt sich die VDV-Akademie momentan verstärkt mit der Frage auseinander, wie diese Form der Auslandsakquise auf eine langfristige und sozial nachhaltige Art und Weise unternommen werden kann. Harald Kraus sieht hierbei einen ganzheitlichen Ansatz als essentiell an: Seiner Meinung nach ist es von enormer Bedeutung, den Prozess von Anfang an – noch im Herkunftsland – intensiv zu begleiten und vorzubereiten, etwa durch Fortbildungen und Sprachkurse. Es müsse zudem gewährleistet sein, dass auch für die mit- oder nachziehenden Familienmitglieder Perspektiven geschaffen werden, beispielsweise in Form von Arbeits- und Ausbildungsplätzen für Partner:innen und Nachwuchs.

Arbeitsbedingungen als Schlüssel

Auch wenn sich der Fahrbetrieb nicht in dem Maße revolutionieren lässt, dass Verfechter:innen von Homeoffice und Gleitzeit vollständig auf ihre Kosten kommen, gibt es zumindest einige Stellschrauben, an denen Verkehrsunternehmen drehen können, um die Arbeitsbedingungen an die Anforderungen des Arbeitsmarktes anzupassen – oder ihnen zumindest anzunähern. Dabei geht es vor allem um die Einführung von Teilzeitmodellen, attraktiveren Arbeitsplänen und softwarebasierten Lösungen wie beispielsweise digitale Tauschbörsen, in denen Mitarbeiter:innen untereinander Fahrdienste tauschen können, wenn sie spontan verhindert sind oder eine Extraschicht übernehmen möchten. Durch solche Modelle sollen zum Beispiel Elternteile angesprochen werden, die durch Care-Arbeit über wenig Zeit verfügen und häufig außerplanmäßigen Verpflichtungen nachgehen müssen.

Weitaus weniger Spielraum für Innovation bleibt den Unternehmen allerdings beim Thema Vergütung. „Das ist ein Spagat“, sagt Harald Kraus mit einem Stirnrunzeln, denn sowohl in seiner Rolle beim VDV als auch im Vorstand der DSW21 werden ihm die finanziellen Probleme der Branche konstant vor Augen geführt. „Das Nahverkehrssystem ist chronisch unterfinanziert, und wo wenig Geld ist, sind die Verteilungskämpfe besonders rabiat.“ Auch das Deutschlandticket, „sozialpolitisch eine fantastische Sache“, gebe in der Gehaltsfrage Rätsel auf, da die Verkehrsunternehmen Rabattierungen wie diese nicht vollständig von Bund und Ländern erstattet bekommen. Dennoch seien die Löhne schon deutlich höher als noch vor einigen Jahren, und auch die Tarifrunden, die Anfang 2024 wieder aufgenommen werden, versprechen eine weitere Anpassung nach oben – wenn auch nicht in allzu großen Sprüngen.

Der Gewerkschaft ver.di und den Aktivist:innen von Fridays for Future reicht das nicht. Unter dem Motto „Wir fahren zusammen“ haben die beiden Organisationen eine Kampagne gestartet, die sich primär an die politisch Verantwortlichen auf Bundes- und Landesebene richtet und eine angemessene Finanzierung des ÖPNV als einen essentiellen Schritt bei der Erreichung der Klimaziele ansieht. Die Forderung: dauerhaft mehr Geld für Konsolidierung und Ausbau des Nahverkehrs, vor allem bezogen auf das Personal. Andreas Schackert, Bundesfachgruppenleiter Busse & Bahnen bei ver.di, ist sich sicher, dass die Personalgewinnung erheblich einfacher wäre, wenn flächendeckend eine arbeitsmarktübliche Bezahlung angeboten werden könnte: „Einen einheitlichen Fahrpreis schaffen ist schön – notwendig ist aber auch eine einheitliche Finanzierung.“ Um das zu erreichen, sieht er Bund und Länder in der Pflicht, entweder einen Teil der Betriebskosten verlässlich zu übernehmen oder den Kommunen dauerhaft mehr Geld zur Verfügung zu stellen. Dass sich Gewerkschaft und Arbeitgeberverband in dieser Frage im Kern einig sind, verdeutlicht die politische Brisanz.

Kein Grund für Pessimismus

Das Beispiel des ÖPNV und dessen stiefmütterliche Behandlung vor allem in den 1990er-Jahren zeigt: Wird ein Feld nicht bewässert, vertrocknet es. Doch ein Tiefpunkt ist immer auch eine Chance für einen Neuanfang; zumindest dann, wenn die entstehenden Herausforderungen erkannt und angenommen werden. Die Verkehrsunternehmen tun dies proaktiv und pragmatisch und gehen Wege, die noch vor einigen Jahren nicht denkbar gewesen wären. Harald Kraus sieht daher keinen Grund für Pessimismus – im Gegenteil. Er ist felsenfest davon überzeugt, dass der ÖPNV auch weiterhin die Säule der Verkehrswende sein wird: „Der ÖPNV dient den Menschen, er wird von der Gesellschaft betrieben und kommt dieser zugute. Wenn wir das Menschliche also in den Mittelpunkt stellen, bewegen wir uns in die richtige Richtung.“ Nicht nur die Beispiele aus Berlin und Düsseldorf zeigen: Es scheint zu funktionieren, wenn man die Menschen dort abholt, wo sie sind – ganz im Sinne der Kernkompetenz von Bus und Bahn.