Wie kann die gemeinwohlorientierte Entwicklung von Mobilität und öffentlichen Räumen gelingen?
Lösungsvorschläge für die einzelnen sektoralen Herausforderungen gibt es viele. Sie werden oft mit großer Ungeduld und großem Unverständnis darüber vorgetragen, wieso man das Offensichtliche nicht sofort umsetzt. Diese Ungeduld ist oftmals gerechtfertigt. Häufig wird dabei aber auch vergessen, dass wir unsere Städte nicht beliebig anpassen können, denn sie sind über Jahrhunderte gewachsener sozialer und physischer Lebensraum.
Mobilität in der Stadt der Zukunft gestalten
Schauen wir direkt auf eines der wichtigsten Themen für eine zukunftsfähige Stadt- und Regionalentwicklung: eine nachhaltige Mobilität und die damit verbundene Nutzung des öffentlichen Raums. Wenn wir das Thema im Kontext urbaner Zentren betrachten, dann wissen wir schon lange, dass der öffentliche Raum extrem wertvoll ist, nicht nur für die Lebensqualität mit Frei- und Grünflächen, sondern natürlich auch für die Wirtschaft und den Handel. Nur durch den Mix an verschiedenen Funktionen in einer Straße entsteht echtes Leben draußen. Gerade in Städten – mit ihren hohen Wohnungskosten und daher oft auch beengten Verhältnissen – spielen sogenannte Outdoor Räume oder Third Places eine unglaublich große Rolle.
Gegenwind durch Lautstärke
Leider erleben wir immer wieder eine Dissonanz zwischen der theoretisch-konzeptionellen Zielsetzung der Allgemeinwohlorientierung und der praktischen Umsetzung. Insbesondere Projekte zur Verkehrswende rufen schnell einen sehr aufgeladenen Diskurs und extreme Widerstände hervor.
Ein Spruch, der mir immer noch in den Ohren klingt: „(Parkende) Autos schreien wenigstens nicht!“ Dies war der Kommentar einer älteren Dame als Reaktion auf ein Straßenraumexperiment, bei dem Kfz-Flächen für Spielen und Aufenthalt freigegeben wurden. Und eine ansteigende Lautstärke durch mehr Kinder ist dabei nur eine Facette der Widerstandsargumentation. Zum Repertoire der sogenannten Nimbys – „Not in my Backyard“ – zählen natürlich auch die sich subjektiv verschlechternde (Auto-)Erreichbarkeit, da Anwohnerparkplätze wegfallen. Sehr häufig ist es auch der Handel, der sich massiv gegen Maßnahmen der Verkehrsberuhigung oder Umwidmungen wehrt, da massive Umsatzeinbußen befürchtet werden – obwohl es mittlerweile zahlreiche Studien gibt, die das Gegenteil beweisen.
Manchmal sind es tatsächlich nur wenige Gegenstimmen, die sich jedoch sehr lautstark zu behaupten wissen. Die Befürworter:innen werden aus eigener Erfahrung in unseren Projekten meist gar nicht so laut, da die Umgestaltung positive Effekte für sie hat. Dies ist auch ein Phänomen, das es zu berücksichtigen gilt, also dass die Zufriedenen sich seltener artikulieren. Wenn es keine differenzierten Verfahren der Anhörung gibt, dann gehen diese Meinungen unter.
Die Beispiele zeigen: Letztlich geht es um Interessen, die teils sehr voneinander abweichen oder sich diametral gegenüberstehen.
Rückenwind durch Dialog
Die Frage ist, wie wir eben genau dieses gesellschaftspolitische Ziel auch auf der konkreten Umsetzungsebene realisieren können und die unterschiedlichen Interessenlagen möglichst integrieren. Eines der wichtigsten Instrumente bleibt dabei der Dialog untereinander und der Aufbau einer Vertrauenskultur: Hinter den Positionen stehen letztlich Menschen, daher ist es umso wichtiger, dass sich alle mindestens ernst genommen fühlen und im gegenseitigen Dialog die Positionen abgewogen und diskutiert werden.
Ein großes Gewicht muss deswegen die gemeinsame Entwicklung von Zukunftsbildern haben. Das klingt einfach – ist es aber nicht. Das Wichtige ist der Prozess zur Erarbeitung von Zukunftsbildern, die Diskussion über und Abwägung von Pro und Kontra, die Integration wissenschaftlicher Erkenntnisse und auch der Einbezug fachpolitischer Positionen. Hier findet die echte Bewusstseinsbildung zu den unterschiedlichen Anforderungen statt und damit eine Sensibilisierung für Kompromisslösungen und/oder gesellschaftliche zukunftsorientierte Notwendigkeiten.
Für den Aushandlungsprozess selbst werden mittlerweile auch mehr und mehr moderne Formate der Beteiligung angewandt, sodass nicht einfach nur die lautesten Stimmen Einfluss nehmen, sondern die Vielfalt der Anliegen Berücksichtigung findet. Beispiel wären hier die Bürgerräte, bei denen über ein Losungsverfahren aus dem Melderegister eine möglichst repräsentative Gruppe zusammengestellt wird. Solche Bürgerräte können natürlich auch um die Interessenvertretungen aus Handel, Kultur etc. erweitert werden.
Wichtig ist allerdings auch, sich die Stufen der Beteiligung bewusst zu machen. Nur Informieren oder auch Anhören ist noch kein ganzheitlicher Beteiligungsprozess; echte Partizipation heißt, dass möglichst frühzeitig beteiligt wird und Mitgestaltung und Mitentscheidung möglich sind.
Wenn es schon zu einer Polarisierung gekommen ist, dann hilft meist nur noch ein Perspektivwechsel. Aus einem Workshop zu den Erfolgsfaktoren gelungener Beteiligung stammt die Aussage: „Es ist auf alle Fälle schon ein Riesenerfolg, wenn die eine Seite am Ende sagt: ‘Ich bin zwar immer noch gegen die Maßnahme, aber ich verstehe jetzt zumindest den Punkt der Gegenseite’.”
Bedarfe müssen klar formuliert werden
Ein weiterer wichtiger Punkt ist auch die Planenden selbst für die diversen Bedarfe zu sensibilisieren. Wir haben hier sehr gute Erfahrungen mit Inklusionsrundgängen gemacht, bei denen Mitarbeitende der Stadtverwaltung sich auf einen Stadtspaziergang begeben und selbst mal erleben, wie es denn ist, wenn man gehörlos oder blind ist, die Knochen nicht mehr so beweglich und das Gleichgewicht wackelig ist oder man auf einen Rollstuhl angewiesen ist.
Auf der anderen Seite muss auch klar die Frage gestellt werden, wann es überhaupt sinnvoll ist, vollumfassend zu beteiligen. Die Verwaltung hat per se einen gemeinwohlorientierten Auftrag – hier sollten keine Individualinteressen im Vordergrund stehen dürfen. Aber nicht nur verändern sich Routinen nur sehr langsam; auch Systeme haben die Tendenz, sich selbst zu erhalten.
Auf dem Land werden natürlich ganz andere Diskussionen geführt. Die Flächenproblematik stellt sich hier meist nicht in dieser Form. Dort geht es um die Erhaltung der Mobilität und Sicherung von Erreichbarkeiten – auch ohne eigenes Auto. Und dies betrifft insbesondere die Jugendlichen ohne Führerschein und die Älteren, die eventuell auch nicht mehr fahren sollten. Der demografische Wandel wird mit voller Wucht zuschlagen und verlangt eine Neujustierung bisheriger Strukturen und Skalierung von Good Practices.
Mobilität – ein emotionales Thema
Für viele ist das Thema Mobilität nicht nur hoch emotional, sondern Mobilität ist die Basis zur Erfüllung unserer alltäglichen und menschlichen Bedürfnisse. Eine gemeinwohlorientierte Stadtentwicklung ist nur erreichbar, wenn die Interessen unterschiedlichster Stakeholder berücksichtigt werden und unter Anerkennung von Interessenkonflikten dennoch gemeinsame Ziele entwickelt werden. Kompromiss ist kein Schimpfwort, wie es im heutigen medialen Diskurs oft erscheint; er beschreibt die Kunst, das Mögliche zu erreichen und damit die Grundlage für eine moderne Stadtentwicklung zu schaffen.
Über die Autorin
Jessica Le Bris bringt strategisches Denken, wissenschaftliches Theorie- und Methoden-Know-how aus der Stadt- und Mobilitätsforschung mit einer praxisorientierten Kommunikation zusammen. Seit 2015 arbeitet sie bei Experience Consulting, ein Büro für Transformationsberatung, das ursprünglich aus dem Verein Green City e.V. in München hervorgegangen ist. Die promovierte Humangeographin leitet den Bereich strategische Beratung und ist seit kurzem auch Prokuristin.
Autorin
Dr. Jessica Le Bris