WIE MEHR TEMPO IN DER VERKEHRSWENDE EINEN BEITRAG ZUR ENERGIEWENDE LIEFERN KANN
Herr von Lojewski, der Deutsche Städtetag galt nicht unbedingt als großer Fan des 9EuroTickets. Wie beurteilen Sie diese populäre Maßnahme heute?
Es ist richtig, dass wir anfangs nicht besonders vom 9-Euro-Ticket überzeugt waren. Und die tatsächliche Rechnung wird ja erst 2024 präsentiert – auch wenn der Bund Vollkompensation zugesagt hat. Jetzt sehen wir die Begeisterung der Fahrgäste und eine höchst willkommene Rückkehr in die Öffis. Diese Begeisterung und Motivation, mit Bussen und Bahnen zu fahren, müssen wir aufrechterhalten. Eine direkte Anschlusslösung an das 9-Euro-Ticket wäre besser gewesen. Diese Chance wurde vertan. Zudem muss die Gegenfinanzierung durch Bund und Länder stimmen, um die kommunalen Verkehrsunternehmen und Verkehrsverbünde nicht zusätzlich zu belasten. Dabei sollten auch die Fernbusunternehmen nicht vergessen werden. Sie hatten bislang überhaupt nichts vom verbilligten Ticket – ganz im Gegenteil, sie haben Fahrgäste dadurch verloren. Und die Kommunen befürchten, dass bei einer Fokussierung auf ein solches Ticket andere, deutlich wichtigere Themen in den Hintergrund geraten könnten.
Welche wären das?
Der Verkehrssektor muss einen deutlichen Beitrag für die Klimawende liefern. Diesen ist er bislang schuldig geblieben. Dazu muss die E-Mobilität ausgebaut und der Schwerlastverkehr auf die Schiene verlagert werden. Herzstück bleibt der ÖPNV, den die Kommunen betreiben. Es geht um Ausbau, Erneuerung und Betrieb des Schienenpersonennahverkehrs in Städten und Regionen und des ÖPNV. Für eine wirksame Mobilitätswende, lebenswertere Städte und Regionen und das Einhalten der CO2-Minderungsziele müssen wir die Zahl der ÖPNV-Nutzer:innen bis 2030 verdoppeln. Wir wollen die Menschen also dauerhaft aus dem Auto holen. Das geht nur mit einer Trias an Maßnahmen. An erster Stelle stehen der Ausbau der Systeme und neue attraktive Angebote. Dafür war es zunächst erforderlich, das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz ordentlich auf den Weg zu bringen. Mit ordentlich ist gemeint: nicht mehr nur 330 Millionen Euro pro Jahr für alles, wie das jahrzehntelang der Fall war, sondern eine deutlich wachsende Finanzierung. Wir brauchen schlicht mehr Geld, wenn wir Systeme ausbauen wollen. Leider hatte sich der Gesetzgeber in der Vergangenheit darauf verständigt, die Mittel einzufrieren, was sogar im Grundgesetz festgelegt wurde – rund anderthalb Jahre später wurde das wieder geändert. Man hat erkannt: Ohne eine adäquate finanzielle Unterstützung der Kommunen können wir nichts erreichen. Das Thema scheint mit einer schrittweise anwachsenden Finanzierung bis 2025 auf zwei Milliarden Euro in trockenen Tüchern. Das ist schon mal eine gute Nachricht.
Mobilität neu gedacht: Mittels einer Designstudie zeigt das Architekturstudio 3deluxe auf, welches Potenzial der öffentliche Raum in der Berliner Friedrichstraße birgt und wie sich das Stadtbild dadurch positiv verändern würde. Ausgehend von einem Modellprojekt ist inzwischen ca. ein Fünftel der Friedrichstraße nur noch für Radfahrer:innen und Fußgänger:innen zugänglich. © 3deluxe
Sie sprachen von einer Trias – welche zwei Themen brennen den Kommunen noch auf den Nägeln?
Die zweite Dimension ist die Instandsetzung der bestehenden Systeme, also des rollenden Materials und der Infrastruktur wie Bahnhöfe etc. Hier ist noch sehr viel zu tun, man ist aber auf einem guten Weg. In NRW beispielsweise werden Bundesund Landesmittel auch für entsprechende Instandhaltungs- und Erneuerungsmaßnahmen bereitgestellt. Die elf Straßenbahnstädte an Rhein und Ruhr werden davon profitieren, weil die Schienennetze, Tunnelanlagen, Bahnhöfe damit in der laufenden Dekade saniert werden können. Eine weitere Herausforderung, sozusagen die dritte Dimension, ist der Betrieb des Schienenpersonennahverkehrs in Städten und Regionen. Auch dieser muss nach der Bahnreform grundgesetzlich garantiert durch den Bund getragen werden. Für die ausreichende Finanzierung muss aber auch das Regionalisierungsgesetz erneut angepasst werden. Die bisherigen Summen reichen nicht aus, die angestiegenen Kosten für den Betrieb auszugleichen, geschweige denn, um das Angebot auszubauen.
Welche Rolle spielt die derzeitige Preisexplosion dabei?
Mit ihr gibt es eine vierte Dimension. Natürlich braucht es auch eine Kompensation der gestiegenen Personal- und Energiekosten. Hinzu kommt, dass die Stadtwerke nicht mehr ohne Weiteres auf den sogenannten Querverbund zwischen den bislang auskömmlichen Sparten bauen können. Dadurch fehlen die Mittel für den ÖPNV. Und ohne eine massive Unterstützung des ÖPNV durch Bund und Länder wird es keine Verkehrs- und Energiewende geben.
© Mika Baumeister/Unsplash
Kommen wir zur Ladeinfrastruktur: Angeblich ist in der Hälfte der deutschen Kommunen kein einziger öffentlicher Ladepunkt zu finden …
Diese Behauptung ist in dieser Verkürzung totaler Kokolores. Wir reden über rund 10.800 zum Teil kleinste Gemeinden insgesamt. Also, in der statistischen Theorie mag das vielleicht stimmen – aber auf Ebene der kreisfreien Städte und übrigens auch der Landkreise finden Sie überall Ladepunkte, auch wenn die Kapazitäten noch nicht reichen. Wenn in einer kleinen Gemeinde auf dem Marktplatz kein Ladepunkt vorhanden ist, steht der nächste Schnelllader vermutlich an der Autobahn in unmittelbarer Nähe. Denn wir befinden uns vielfach im ländlichen Raum. Klar ist aber: Unsere Mitgliedsstädte im Städtetag haben alle Ladepunkte. Im Übrigen: Bertha Benz hat ihren Sprit in der Apotheke besorgt – und nicht bei der Gemeinde. Die Städte haben sich des Themas angenommen und befördern es, wo sie nur können.
Was sagen Sie zu der Forderung nach einer Million öffentlich zugänglicher Ladesäulen?
Die Zahl steht im Koalitionsvertrag, aber öffentlich zugänglich heißt ja nicht auf der öffentlich gewidmeten Straße oder auf kommunalem Grund. Wir müssen auch Tankstellen, Einzelhandel, Wohnungsunternehmen, Flottenbetreiber zum Mitmachen gewinnen. Sie alle können Ladepunkte auf ihren Liegenschaften anbieten. Auch in Parkhäusern gibt es Potenzial für flächenschonende E-Ladepunkte. Die Städte setzen darauf, dass der Aufbau von öffentlich zugänglicher Ladeinfrastruktur von Bund und Ländern weiterhin engagiert gefördert wird. Die Betreiber werden Betrieb und Unterhaltung der Ladesäulen aber mittelfristig selbstständig ohne öffentliche Zuschüsse stemmen müssen. Volle Wirtschaftlichkeit ist das Ziel. Zudem: Über die Hälfe der Ladevorgänge erfolgt zu Hause oder am Arbeitsplatz.
Sollte die zugängliche Infrastruktur Ihrer Ansicht nach ausschließlich aus Schnellladepunkten bestehen?
Das überlasse ich dem Markt. Ich denke aber schon, dass es sinnvoller ist, wenn wir an Tankstellen und Supermärkten schnell laden können. Wir sollten zudem die Ladevorgänge im öffentlichen Raum zeitlich begrenzen: Man darf nicht Parken mit Laden verwechseln. Es braucht einen schnellen Umlauf. Der Aufwand für einen öffentlichen Parkplatz mit Ladesäulen ist hoch. Das „Hub-Laden“ an Stationen, die nur dafür zur Verfügung stehen, ist sicherlich besser und effizienter als das individuelle „Park-Laden“.
Sie sagen: Ladesäulen sind keine originäre kommunale Aufgabe. Also beurteilen Sie die Reform des Masterplans Ladeinfrastruktur in den Städten und Gemeinden mit der ihnen zugedachten Rolle als Grundversorger kritisch?
Ja, das sehen wir deutlich anders und befinden uns da mit dem Spitzenverband der Energiewirtschaft bdew in guter Gesellschaft: Die Versorgung von individuellen Fahrzeugen mit Energie ist ganz eindeutig keine Aufgabe der kommunalen Daseinsvorsorge. Es bleibt eine freiwillige Aufgabe, die allenfalls komplementär durch die Kommunen zu erledigen ist. Da wird es sicherlich noch Anpassungen im Masterplan geben.
Aber die Kommunen sehen schon ein, dass es für sie ein Standortvorteil ist, wenn die lokale Ladeinfrastruktur möglichst gut aus gebaut ist.
Natürlich. Und die entsprechende Motivation und das Engagement sind bei den Städten auch zweifellos vorhanden. Doch das Anfassen des öffentlichen Raums ist, wie jeder Café-Betreiber mit Außenbereich auf öffentlichem Grund weiß, nicht trivial. Es braucht die Zustimmung vieler für die Nutzung von öffentlichem Raum. Aber die Städte sind dran an den Ausbaugenehmigungen für die Ladeinfrastruktur, und 15 % im öffentlichen Bereich sollten reichen.
Grundsätzlich soll der individuelle Personenverkehr mehr oder weniger aus den Städten verbannt werden – führt das nicht zu massivem Widerstand?
Das ist doch eigentlich eine olle Kamelle. In Deutschland hat die mentale Verkehrswende schon längst stattgefunden. Die Zustimmung für Veränderung ist groß: Für die Innenstadt ist das Auto allein nicht mehr das richtige Verkehrsmittel. Das bedeutet nicht zwingend Verbannung, wohl aber Beschränkung auf den unabweisbaren Verkehrsbedarf. Durch Maßnahmen im Straßenraum, wirksames Parkraummanagement und Zufahrtsbeschränkungen gewinnen wir Räume für andere Nutzungen, zum Beispiel für Freizeit und Gastronomie, aber natürlich auch für multimodale Verkehrsmittel wie Räder, E-Roller – und für Fußgängerinnen und Fußgänger.
Sie haben auf der ersten polisMOBILITY Konferenz & Messe im Mai dieses Jahres darauf hingewiesen, dass die Transformation in den Städten und Gemeinden vergleichsweise leicht gelingen würde – im ländlichen Raum sei die Sache aber gänzlich anders …
Was die Mobilitätswende in den Innenstädten angeht, bin ich tatsächlich optimistisch. Auch das wird nicht von heute auf morgen passieren, aber wir haben nur noch zwei Großstädte in Deutschland mit mehr als 50 % Pkw-Anteil an den zurückgelegten Wegen. Der Fußgänger- und Radverkehrsanteil steigt deutlich, am ÖPNV ist weiter zu arbeiten. Im regionalen Verkehr liegt in der Tat die eigentliche Herausforderung. Wir müssen mehr öffentliche Mittel aufwenden, um mehr Angebote in der Peripherie der Städte sowie im ländlichen Raum bereitzustellen. Eine Möglichkeit sind Shuttles, also „Door-to-Train“-Angebote. Aber auch für sie gilt: Sie werden auf absehbare Zeit ein Zuschussgeschäft bleiben. Dessen müssen sich alle politischen Ebenen bewusst sein – Lebens- und Aufenthaltsqualität, Verringerung von Schadstoffausstoß, Flächensparen und CO2-Einsparungen sind nicht zum Nulltarif zu haben. Aber sie können gegenfinanziert werden durch Steuermittel, durch Nutzungsgebühren für das öffentliche Straßennetz, die nach Fahrzeug, Strecke und Zeit differenziert werden könnten, und durch die Internalisierung der Umwelt- und Gesundheitskosten, die der Auto- und Straßengüterverkehr verursacht.
Vielen Dank für das spannende Gespräch.
HILMAR VON LOJEWSKI
© Michaela Spohr/Deutscher Städtetag
ist seit 2012 Beigeordneter für Stadtentwicklung, Bauen, Wohnen und Verkehr für den Städtetag Nordrhein-Westfalen und den Deutschen Städtetag. Er studierte bis 1988 Raumplanung sowie Stadt- und Regionalplanung in Dortmund und Ankara, war bis 1991 Städtebaureferendar in Frankfurt/Main, arbeitete als freier Planer in Dortmund und bis 1994 für die GTZ als Planungsberater in Kathmandu, Nepal. Bis 2000 wirkte er als Abteilungsleiter im Stadtplanungsamt Dresden. In der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Berlin war er für die Abteilungen Städtebau und Projekte und Ministerielle Angelegenheiten des Bauwesens zuständig. Von 2007 bis 2010 arbeitete er für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit im Programm für Nachhaltige Stadtentwicklung in Syrien.
Autor
Daniel Boss