"Wir haben im ÖPNV kein Fachkräfteproblem, wir haben ein Arbeitskräfteproblem"
Obwohl der ÖPNV seit über 150 Jahren ein etabliertes System ist, um Leute von A nach B zu bringen, wurde er im Verkehrswende-Diskurs lange eher stiefmütterlich behandelt. Wie erklären Sie sich, dass man sich erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit wieder verstärkt damit befasst?
Um das zu verstehen, müssen wir ins letzte Jahrtausend zurückblicken. In den 1990er-Jahren gab es eine Debatte über den Nahverkehr und den öffentlichen Personenverkehr im Allgemeinen. Damals herrschte die Meinung vor, dass Verkehr ein Wettbewerbsfaktor ist. Es wurde diskutiert, ob es noch eine öffentliche Versorgung gibt und ob Privatunternehmen nicht auch in Bereichen der öffentlichen Versorgung tätig sein sollten. In diesem Zusammenhang haben viele Verkehrsunternehmen, inspiriert von den Initiativen der damaligen Bundesregierung bei der Deutschen Bahn, die zu dieser Zeit noch Bundesbahn hieß, auch für den Nahverkehr gesagt: Diese Branche muss wettbewerbsfähig werden. Das bedeutet letztendlich, dass alles, was nicht profitabel erscheint, reduziert werden muss.
Wenn man sich die Entwicklung in den Geschäftsberichten der Verkehrsunternehmen ansieht, stellt man fest, dass die Mitarbeiterzahlen durchweg gesunken sind. Der Personalbestand wurde in jahrzehntelangen Restrukturierungsphasen stark verkleinert. Zusätzlich wurden Tarifverträge geschlossen, um diese Liberalisierung und Wettbewerbsfähigkeit abzusichern. Diese Tarife wurden für den Nahverkehr entwickelt. Das Mindset der gesamten Branche war: Wir müssen Personal abbauen, wir müssen effizienter sein. Ich glaube, daher wurde der öffentliche Nahverkehr vernachlässigt, einfach weil er Kosten verursacht hat und nicht in das damalige ordoliberale Denken des gesellschaftlichen Mainstreams passte.
Früher gab es Arbeitskräfte, aber kein Geld. Jetzt gibt es das Geld, aber nicht mehr genug Arbeitskräfte, da Stellen abgebaut wurden, als es kein Geld gab. Wie sieht die Finanzierungssituation denn mittlerweile aus?
Derzeit erleben wir eine absurde Situation: Es herrscht Konsens darüber, dass wir für die Verkehrswende dringend mehr ÖPNV benötigen. Dabei werden oft Städte wie Zürich, Wien und Kopenhagen als Vorbilder genannt. Dort wurde viel Geld investiert, um den ÖPNV zu verbessern. Bei uns ist es anders. Durch das Deutschlandticket haben wir zwar eine Vereinfachung der Ticketstrukturen erreicht, gleichzeitig hat es aber zu einer Veränderung der Finanzierung des Nahverkehrs geführt. Die Verluste steigen. Das Deutschlandticket ist eine großartige sozialpolitische Maßnahme, aber es hat nicht dazu geführt, dass wir viele neue Kund:innen gewonnen haben. Einige haben ihr bisheriges Abonnement zu einem günstigeren Preis hochgestuft, was verständlich ist. In Dortmund kostete das günstigste Monatsticket für den Stadtraum 64 Euro. Jetzt zahle ich 49 Euro und kann durchs ganze Land reisen. Aus der Nutzer:innenperspektive toll, aber zur Entspannung der Finanzierungssituation trägt das neue Modell nicht unbedingt bei.
Und die Finanzen sind nicht das einzige Problem, mit dem sich der ÖPNV beschäftigen muss…
Genau. Nehmen wir einmal an, dass Geld keine Rolle spielt: Dann haben wir immer noch viel zu wenig Personal. Es herrscht nicht nur ein Fachkräftemangel, sondern generell ein Mangel an Arbeitskräften. Es gibt kaum eine Jobfamilie, in der wir keine Probleme haben. Der demografische Wandel trägt dazu bei, dass die Babyboomer-Generation in den Ruhestand geht, während weniger junge Menschen auf den Arbeitsmarkt nachrücken. Laut Studien des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales werden bis 2035 jährlich zwischen 330.000 und 400.000 Arbeitskräfte den Arbeitsmarkt verlassen. Diese Zahlen berücksichtigen bereits Effekte wie Digitalisierung und andere Substitutionseffekte. Der Arbeitsmarkt schrumpft also, und das betrifft nicht nur unsere Branche, sondern den Arbeitsmarkt insgesamt.
Für uns ist es jedoch besonders problematisch, dass der Anteil von Akademikern am Gesamtarbeitsmarkt steigt, während der Anteil von Menschen mit geringerer Qualifikation sinkt. Wir haben keine Raketenwissenschaftler im Fahrdienst, sondern hauptsächlich Menschen mit schulischer oder beruflicher Ausbildung. Dieser Anteil sinkt prozentual am gesamten Arbeitsmarkt, der ebenfalls schrumpft. Wir haben also mit zwei Effekten zu kämpfen: dem allgemeinen Fachkräftemangel und der Tatsache, dass die Rahmenbedingungen im Fahrdienst für heutige Arbeitnehmer nicht attraktiv sind. Busse fahren nun einmal feste Routen. Im Vergleich zu ähnlichen Berufen wie dem Taxigewerbe gibt es also weniger Abwechslung. Es gibt Einschränkungen wie die begrenzte Möglichkeit, auf die Toilette zu gehen, und Homeoffice ist erst recht kein Thema. Daher müssen wir uns intensiv damit auseinandersetzen, wie wir den Job attraktiver gestalten können.
Machen wir doch mal eine kleine Bestandsaufnahme. Was spricht bereits jetzt für einen Job im ÖPNV?
Ein wichtiger Punkt ist, dass unsere Branche im Gegensatz zu anderen Industriezweigen einen großen Vorteil hat: Das, was wir tun, dient insbesondere im öffentlichen Nahverkehr den Menschen vor Ort, in dem wir selbst wohnen und leben. Im Schienenpersonennahverkehr dient es natürlich auch der Mobilität vieler Menschen und den Klimazielen. Unsere Arbeit richtet sich nicht nach den Interessen von Hedgefonds, sondern wir sind eine Branche, die aktiv für die Gesellschaft arbeitet. Wir haben deutlich bessere Arbeitsbedingungen als beispielsweise Lieferservice für Lebensmittel, weil wir alle tarifgebunden sind und zur kommunalen Daseinsvorsorge gehören. Es ist bedauerlich, dass oft nicht erkannt wird, dass wir als Arbeitgeber eine andere DNA haben, wenn es darum geht, sozial zu handeln.
Was tun Sie, um die insuffiziente Personalsituation zu verbessern?
Den einen Weg gibt es nicht. Kurzfristige Maßnahmen könnten beispielsweise die Beschäftigung von Mitarbeitenden über das Renteneintrittsalter hinaus sein. Das erfordert eine besondere arbeitsmedizinische Betreuung und natürlich die Bereitschaft, weiter arbeiten zu wollen. Wir erwarten nicht, dass hunderte oder tausende von Menschen länger arbeiten werden, aber in unserer Branche haben wir, vor allem im Fahrdienst, häufig Quereinsteiger, die irgendwann mal etwas anderes gemacht haben und weil das nicht geklappt hat, in den Rentenbezug gerutscht sind. Für sie bedeutet unser Angebot, dass sie noch mal beruflich Fuß fassen können, was sich positiv auf ihre Rentenberechnung auswirkt. Es ist aber nicht unser Ziel, das Renteneintrittsalter dauerhaft für alle zu erhöhen, sondern wir möchten den individuellen Anfragen gerecht werden.
Wir suchen gezielt im Ausland nach Arbeitskräften. Die VDV-Akademie plant zum Beispiel gezielte internationale Mitarbeiterrekrutierung mit über 4000-5000 Menschen jährlich. Dabei sollen Kompetenzen wie Fahrschulausbildungen und Sprachkurse bereits im Ausland vermittelt werden. Unser Ziel ist es, potenzielle Mitarbeiter bestmöglich auf ihre Tätigkeit vorzubereiten und ihre Bedürfnisse zu berücksichtigen. Das gilt auch für die Familien, die da häufig dranhängen: Wir versuchen auch den Kindern Ausbildungsplätze anzubieten. Nur so ist eine langfristige Integration in das Unternehmen und die neue Umgebung möglich.
Das bringt uns gleich zum nächsten Thema. Was tut die Branche für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf?
Wenn man sich die Zahlen des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales ansieht, stellt man fest, dass der Anteil der erwerbstätigen Frauen etwa fünf Prozentpunkte niedriger ist als der der Männer. Das bedeutet, dass es auf dem Arbeitsmarkt Unterschiede gibt. Ich möchte hier keine gesellschaftliche Debatte anstoßen, aber man muss feststellen, dass in unserer Gesellschaft immer noch viele Frauen die Doppelbelastung von Familie und Beruf haben. Auch deshalb müssen wir flexibles Arbeiten ermöglichen. Das bedeutet, dass wir Teilzeitmodelle und Dienstpläne haben müssen, die den Bedürfnissen der Beschäftigten gerecht werden, die Eltern sind. Das betrifft vor allem Frauen, obwohl ich der Meinung bin, dass dies nichts mit Geschlechtern zu tun hat, sondern einfach eine arbeitsmarktpolitische Realität ist. Wir diskutieren in der Branche, wie wir grundsätzlich attraktivere Dienstpläne gestalten können, die mehr Freiheit bieten. Ein Beispiel dafür sind digitale Dienstplantauschbörsen. Wir sind auch im Gespräch mit Herstellern, um über die Entwicklung von Dienstplanungssoftware zu diskutieren, die individuelle Wünsche stärker berücksichtigt. Oftmals sind die Parameter der Dienstpläne an den Fahrplänen orientiert und weniger an den Bedürfnissen der Beschäftigten.
Dass das Thema Finanzen Sorgen bereitet, hatten wir bereits. Aber wäre eine bessere Vergütung nicht ein entscheidender Faktor der Personalgewinnung?
Es ist schwierig. Wenn Tarifabschlüsse für Fahrdienstbeschäftigte unattraktiv sind, “sparen” wir zweimal: Die Lohnkosten steigen und gleichzeitig verlieren wir Mitarbeiter, was zu noch geringeren Lohnkosten führt, da nicht alle Stellen besetzt werden. Das ist kontraproduktiv. Als kommunale Unternehmen mit begrenzten finanziellen Mitteln sind wir chronisch unterfinanziert. Wir befinden uns in einer Rabattschlacht, die uns nicht vollständig erstattet wird. Gleichzeitig sind wir der Meinung, dass wir als Arbeitgeber attraktive Vergütungen bieten müssen. Wir werden niemals so viel zahlen können wie die privatwirtschaftlich orientierten Bereiche. Dennoch müssen wir sicherstellen, dass die Bezahlung im Fahrdienst nicht zu knapp ausfällt. Wir haben in NRW einen Grundlohn von über 3000 Euro brutto für Fahrdienstbeschäftigte, der ab April gilt. Zusätzlich gibt es Zulagen für Nacht- und Sonntagsarbeit. Das ist zwar nicht die bestbezahlte Arbeit, aber immerhin eine gute Vergütung. Die Tätigkeit im Fahrdienst ist ein verantwortungsvoller Beruf und die Vergütung von 3000 Euro ist ein Pluspunkt. Wir bieten auch Betriebsrentensysteme an, aber das interessiert viele junge Menschen nicht, die in ein paar Jahren einen neuen Job suchen möchten. Es ist schwierig, aber wir versuchen, uns anzupassen.
Eine gute Work-Life-Balance spielt heutzutage eine wichtige Rolle für Arbeitnehmende. Wie lässt sich das mit der dünnen Personalsituation vereinbaren?
Im letzten Frühjahr hatten wir bundesweite Tarifverhandlungen für den Nahverkehr, bei denen Verdi zusätzliche freie Tage gefordert hat. Arbeitszeitverkürzung ist definitiv ein Thema und wir verstehen den Wunsch nach einer besseren Work-Life-Balance. Das Problem ist, dass wir derzeit unser Fahrplanangebot reduzieren, da entweder Mitarbeiter krank sind oder Stellen unbesetzt bleiben. Es ist schwierig, weniger zu arbeiten, da wir bereits an unsere Kapazitätsgrenzen stoßen. Verdi argumentiert, dass die hohe Fehlzeitenquote auf die hohe Belastung zurückzuführen ist und dass eine Entlastung notwendig ist. Es ist eine schwierige Situation. In den letzten vier Jahren haben wir in Dortmund 100 neue Fahrer eingestellt, um die individuelle Belastung zu verringern, aber das löst natürlich nicht das strukturelle Problem.
Wie schätzen die zukünftige Entwicklung im ÖPNV angesichts einer möglichen Einführung autonomer Fahrzeuge im Normalbetrieb ein? Macht es dann überhaupt noch Sinn, in den Fahrdienst einzusteigen?
Wir glauben, dass autonomes oder vollautomatisiertes Fahren die Zukunft ist. Persönlich denke ich, dass es wegen der hohen Fehleranfälligkeit auf Level 5 eher auf vollautomatisiertes Fahren hinausläuft, also Level 4. Das würde bedeuten, dass wir deutlich weniger Fahrer benötigen. Ich glaube aber nicht, dass der öffentliche Nahverkehr so schnell flächendeckend auf autonomes oder vollautomatisiertes Fahren umstellen kann. Wir haben Busse, die eine bestimmte Lebensdauer haben und gefördert wurden, was bedeutet, dass sie für eine vorgegebene Zeit, manche für 12 Jahre, fahren müssen. Außerdem würden, wenn autonomes oder vollautomatisiertes Fahren eingeführt wird, wahrscheinlich eher kleinere Fahrzeuge für die Feinraumerschließung eingesetzt werden, anstatt große Buslinien zu autonom zu betreiben, da wir bereits die entsprechenden Strukturen dafür haben.
Es wird also weiterhin genug Personal im Fahrdienst benötigt?
Davon bin ich überzeugt. Die Verkehrswende erfordert den Ausbau des Nahverkehrs. Bis 2030 benötigen wir – konservativ geschätzt – 110.000 neue Mitarbeiter, vor allem im Fahrdienst. Ein ambitionierterer Ansatz erfordert sogar 170.000 bis 180.000 neue Kräfte. Die Einführung autonomer Fahrzeuge könnte sich in den nächsten 20 bis 25 Jahren entwickeln. Neue Beschäftigungsbereiche könnten flexiblere Arbeitsmodelle ermöglichen, ohne die Notwendigkeit, sofort zwischen autonomem Fahren und Fahrern zu wählen. Die Entwicklung wird organisch, aber sie wird passieren.
Das klingt spannend, aber auch ungewiss… Sind Sie optimistisch, was die Zukunft des ÖPNV angeht?
Ja, definitiv. Sonst würde ich hier nicht arbeiten. Die CO2-Belastung durch den Verkehr ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass es in Zukunft mehr On-Demand-Verkehr und Sharing-Systeme geben muss und geben wird. Dennoch werden wir weiterhin den Fernverkehr, die Schienen und den Regionalverkehr sowie den öffentlichen Nahverkehr als wichtige Säulen der Mobilität benötigen. Ich glaube nicht, dass wir zum motorisierten Individualverkehr zurückkehren werden. Obwohl ich mich manchmal, wenn ich die Politik betrachte, frage, in welchem Jahrhundert ich gelandet bin, führt realistisch gesehen kein Weg vorbei an der Verkehrswende. Zum Glück gibt es bereits großartige Initiativen und Überlegungen, dass Gewerkschaften und Verkehrsverbünde gemeinsam über das Thema diskutieren. Es bilden sich Koalitionen, die viel wirkungsvoller sind, als wenn jeder für sich arbeitet. Es ist wirklich gut, dass Gewerkschaften nicht nur den alten Glauben an Wachstum hochhalten, sondern verstärkt in qualitative Diskussionen eintreten, um Themen voranzubringen. Das finde ich richtig gut.
Vielen Dank für das offene und anregende Gespräch!
Autoren
David O'Neill & Janina Zogass